Tunesische Jugendkultur

Der Wunsch nach Flucht prägt das Lebensgefühl

Jugendliche sitzen am 6.5.2015 in einer Bar in der Altstadt der tunesischen Hauptstadt Tunis.
Jugendliche in einer Bar in der Altstadt von Tunis. © picture-alliance / dpa / Eric Lalmand
Heidrun Friese im Gespräch mit Korbinian Frenzel  · 26.01.2016
In Ländern wie Tunesien ist der Gedanke an Flucht längst zum Teil der Jugendkultur geworden, sagt die Professorin für interkulturelle Kommunikation, Heidrun Friese. Aufhalten könne man die Flüchtlinge deshalb nicht.
In Ländern wie Tunesien ist der Gedanke an Flucht längst zum Teil der Jugendkultur geworden, sagte Heidrun Friese, die Professorin für interkulturelle Kommunikation. Als "Haraga" verstehen sich viele junge Leute, die sich auf die Boote Richtung Europa wagen.
Die gängige Selbstbezeichnung übersetzte sie frei aus dem Arabischen als "Regeln übertreten". Im Kontext von Booten und Flucht bedeute es auch, dass die Tunesier ihre Pässe verbrennen. Das werde aber positiv verstanden.
Migration lässt sich nicht wie der Verkehr regeln
In Algerien sei die Jugendarbeitslosigkeit so hoch, dass sich jungen Menschen wenig Perspektiven böten, sagte Friese. Das ganze System sei korrupt. "Das ist das Lebensgefühl einer ganzen Generation - ich will hier weg", sagte die Wissenschaftlerin.
Man müsse sich in die Lage eines jungen Mannes versetzen, der im tunesischen Hinterland lebe. "Der versteht von Rückführungsabkommen nichts, der versteht nicht von Obergrenzen." Solche Menschen ließen sich nicht von EU-Politikern aufhalten. Es gebe immer jemanden, der die Flucht geschafft habe. "Und der ist das Vorbild und nicht derjenige, der wieder zurückgeschickt wird."
Deswegen seien die derzeitigen Debatten irreal. Man könne Migration schließlich nicht so regeln, wie man den Verkehr regele, sagte Friese. "Macht man da eine rote Ampel, dann halten alle an." Dabei handele es sich um ein psychologisches System, bei dem Imagination von jungen Menschen und eine Jugendkultur eine große Rolle spielten. "Da können sie Maßnahmen ergreifen so viel sie wollen, sie werden diese Leute nicht aufhalten, weil sie einfach die Träume dieser Leute und das Lebensgefühl nicht beeinflussen können", sagte Friese.
Rückkehrer enden oft im Gefängnis
Friese erinnerte daran, dass auf der Druck der EU eine illegale Ausreise aus Tunesien und anderen nordafrikanischen Ländern bestraft werde. Dies sei ein Grund, warum viele Tunesier, die in Europa wenig Aussichten auf politisches Asyl hätten, schwer zurückkehren könnten. Sie wanderten schnell ins Gefängnis oder müssten mit Strafen rechnen, sobald sie zurückkämen.

Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Sie hören "Studio 9" mit einer Frage, die eigentlich viel wichtiger ist als die,die zurzeit so im Zentrum steht, die politisch dominante Frage, wie die Zahl der Flüchtlinge deutlich reduziert werden kann. Wer diese Frage ernsthaft stellt, der muss sich zuerst fragen, warum flüchten eigentlich so viele Menschen gerade auch aus Ländern wie Tunesien oder Marokko, wo ja kein Krieg wütet. Wer diese Frage stellt, der wird auf einen Begriff stoßen, einen arabischen Begriff – Haraga –, und bevor ich mich bei Aussprache und Erklärung weiter verrenkte, begrüße ich Heidrun Friese, sie ist Professorin für interkulturelle Kommunikation an der TU Chemnitz, war in Tunesien, war auf Lampedusa. Guten Morgen!
Heidrun Friese: Guten Morgen!
Frenzel: Schön, dass Sie da sind und uns erzählen können von diesen Reisen, von diesen Recherchen, bei denen Sie auch immer wieder auf einen Begriff gestoßen sind, nämlich eben diesen Begriff Haraga. Was oder besser gesagt wer ist das?
Friese: Das sind diejenigen, die sich also auf die Boote setzen, sind in der Regel junge Männer, und das ist die Bezeichnung, die die Menschen sich selber geben. Das Wort bedeutet ungefähr, das ist eine idiomatische Wendung und bedeutet eigentlich Regeln übertreten, Regeln verbrennen, und im Kontext der Boote und zu der Flucht nach Europa heißt es, sie verbrennen ihre Pässe. Man kann das auch durchaus im Umgangssprachlichen verwenden: Sie fahren bei Rot über die Ampel, dann haben Sie eine Regel übertreten, und dann hören Sie manchmal – hab ich auch selbst gehört –, dann rufen die Leute: "Haraga", Sie haben das übertreten hier, Sie haben eine Regel übertreten.
Frenzel: Das heißt, es ist also nicht nur ein neutraler Begriff, so wie wir Flüchtlinge sagen, sondern einer, der eine Konnotation hat, der auch irgendwie positiv besetzt ist.
Friese: Das ist positiv besetzt und zwar in dem Sinne, als dass tatsächlich auf Druck der EU illegale Ausreise in Tunesien und in den Ländern Nordafrikas bestraft wird. Das ist nebenbei – Klammer auf, Klammer zu – ein Grund, warum viele der Tunesier, die hier in Deutschland oder Europa keine Chance auf Asyl haben, auch schlecht wieder zurück können, und selbst, wenn sie wollten – weil sie sagen, also nee, hier sind die Chancen doch nicht so –, sie können nicht wieder zurück, weil kaum betreten sie tunesischen Boden – so sie überhaupt aufgenommen werden wieder von ihren Ländern –, dann wandern die in den Knast oder müssen mit Strafen rechnen.
Das Boot wird zum Traum
Frenzel: Wenn wir gerade noch mal auf diesen Aspekt eingehen, wie Jugendliche diesen Begriff, die Situation aufnehmen, da haben wir mal ein Beispiel rausgeholt, auf das Sie uns aufmerksam gemacht haben, das Ganze musikalisch sozusagen erzählt.
Friese: Wenn ich nur ganz kurz übersetzen darf, dann ist das der Ausruf dieser Leute, "ah, Bott, ich sehe dich! Bring mich weg hier aus der Misere, aus diesem Elend hier, in meinem Land, da werde ich tyrannisiert, und ich bin der Situation wirklich müde, und ich bin der Dinge wirklich leid". Das ist wirklich ein Teil der Jugendkultur. Sie müssen sich vorstellen, das hören die über "YouTube", das ist eins der Bekanntesten, es wird millionenfach abgerufen, es gibt natürlich auch ein Video dazu. Da sieht man größtenteils Schiffe, weil das Schiff, das Boot wird dann zum Traum und wird zu dem Objekt, was einen rausbringen soll aus dieser Situation, aus dieser Hoffnungslosigkeit, aus dem, dass man nicht weiterkommt.
Wenn wir Algerien beispielsweise nehmen, ich glaube, um die 39 Millionen Algerier sind jünger als 30, die haben eine wahnsinnig hohe Jugendarbeitslosigkeit. Das ganze System ist korrupt. Das heißt, selbst wenn man gut ausgebildet ist und keine Beziehung hat, dann kriegt man keine Arbeit, und man muss sich durchschlagen. Denen kann man auch nicht mit rationalen Argumenten kommen, weil das ein Lebensgefühl ist, das ist ein Lebensgefühl einer ganzen Generation – "Ich will hier weg!"
Verbitterung nach der Arabischen Revolution
Frenzel: Es gab in den letzten Wochen in Tunesien erstmals wieder große Demonstrationen vor allem junger Leute. Diese Misere, die da in dem Lied beschrieben wird, die Sie beschreiben, ist die denn größer, ist die Situation hoffnungsloser als vor Beginn des Arabischen Frühlings?
Friese: Ja, die Zustände sind ähnlich geblieben, und all die Hoffnung, die man gesetzt hat auf Demokratisierung, sind zumindest auf der wirtschaftlichen Ebene überhaupt nicht erfüllt worden. Das führt natürlich zu Verbitterung, auch von den Aktivisten, also Bloggern beispielsweise, Netzaktivisten, die durchaus wichtig waren für die Revolution, die mittlerweile auch zerstritten sind, wo ein Teil ausgewandert ist. Man stellt gleichzeitig fest, dass die Repression auch wieder eingesetzt hat. Das heißt, die Situation ist eigentlich nicht sehr glücklich.
Frenzel: Frau Friese, wenn die Hoffnungen im eigenen Land sich nicht erfüllen, mit welchen Hoffnungen gehen die jungen Leute dann nach Europa – mit überhöhten Hoffnungen auch?
Friese: Ich würde sagen zum Teil schon. Gäbe es Visa-Freiheit, dann würde viele dieser verzweifelten Leute hierher kommen und feststellen, dass dies hier auch nicht das Paradies auf Erden ist oder das gelobte Eldorado, stellen fest, dass also doch die Erwartungen, die sie gehegt haben, hier überhaupt nicht erfüllt werden oder nur teilweise erfüllt werden. Das schafft natürlich Frustration. Das, denke ich, führt dann auch zu solchen scheußlichen Geschehen wie in Köln beispielsweise. Eine Frustration, weil man das, was man hat erreichen wollen, nicht erreicht. Hier spielt das Netz auch eine ganz wichtige Rolle, dass man natürlich beständig die Bilder sieht von Europa, das reiche Europa, das freie Europa. Das heißt, die machen sich eine Vorstellung von der absoluten Freiheit und treffen hier natürlich auf Beschränkungen.
Es wird immer Wege geben
Frenzel: Die Frage ist ja, welche Nachrichten auch zum Beispiel in Ländern wie Algerien, wie Marokko, wie Tunesien ankommen. Es gibt hierzulande die Diskussion in der deutschen Politik, Marokko und Algerien zu sicheren Herkunftsstaaten zu deklarieren. Hört man davon, ist das Thema, was löst das aus? Eher noch den Run, eher noch die Idee, wir müssen uns schnell auf den Weg machen oder auch das Gefühl, na ja, so willkommen sind wir dann möglicherweise doch nicht?
Friese: Versetzen Sie sich in die Lage eines jungen Mannes, der im Hinterland, in Kasserine in Tunesien sitzt: Der versteht von Rückführungsabkommen nichts, der versteht nichts von Obergrenzen. Da lassen Sie sich nicht aufhalten von dem Politiker der EU oder Deutschland, der sagt, das geht aber nicht und beachtet mal, ihr werdet alle wieder zurückgeschickt, weil es immer jemanden gibt, der es geschafft hat, und der ist das Vorbild und nicht derjenige, der wieder zurückgeschickt wird. Es wird immer Wege geben. Das macht auch einen Teil, ich würde fast sagen des Irrealen dieser derzeitigen Debatten auch aus, dass man meint, man könnte also Migration und Mobilität so regeln, wie man den Verkehr regelt. Macht man da eine rote Ampel, dann halten alle an. Das ist ein psychologisches System, und das hat sehr viel mit der Imagination von jungen Menschen zu tun, die eine Jugendkultur ausmacht. Da können Sie Maßnahmen ergreifen so viel Sie wollen, Sie werden diese Leute nicht aufhalten, weil Sie einfach die Träume dieser Leute und das Lebensgefühl nicht beeinflussen können.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Heidrun Friese: Grenzen der Gastfreundschaft. Die Bootsflüchtlinge von Lampedusa und die europäische Frage
transcript-Verlag, 29,90 Euro

Mehr zum Thema