Türkei gegen EU-Kultur

"Das ist ein Armutszeugnis"

Nuran David Calis im Gespräch mit Nana Brink · 10.05.2016
Das mit EU-Mitteln geförderte Musikstück "Aghet" thematisiert den Völkermord an den Armeniern. Weil das der Türkei missfällt, nahm die EU offenbar Hinweise auf das Projekt von ihrer Website. Für den Theaterregisseur Nuran David Calis ist dieses Verhalten "erbärmlich".
Nuran David Calis, Theaterautor und Regisseur mit türkisch-armenischen Wurzeln, hat die Reaktion der EU auf eine Intervention der Türkei scharf kritisiert: "Das war natürlich ein Akt der Unmöglichkeit, das war erbärmlich, dass die EU sich da in ihre Leitlinien hat hineinmanövrieren lassen von der türkischen Regierung. Das ist ein Armutszeugnis."

Text von der Seite genommen

Die ständige Vertretung der Türkei bei der Europäischen Union hatte die Einstellung der finanziellen Unterstützung des Musiktheaterprojekts "Aghet" der Dresdner Sinfoniker gefordert. Die EU hatte daraufhin zwar erklärt, die Förderung selbstverständlich nicht einstellen zu wollen, jedoch einen Text über "Aghet" vorübergehend von der entsprechenden EU-Webseite genommen – angeblich, um diesen zu überarbeiten.
Calis selbst hat für das Münchner Residenztheater eine Bearbeitung des Romans von Franz Werfel "Die 40 Tage des Musa Dagh" inszeniert. Das Stück, das dort am kommenden Freitag aufgeführt wird, thematisiert ebenso wie "Aghet" den Völkermord an den Armeniern vor gut 100 Jahren.

Zeitlose Botschaft

Calis betone, er sei Künstler und eigentlich kein Aktivist. Dennoch sei ihm bewusst, dass er sich mit seinem eigenen Projekt ebenfalls Feinde machen werde.
"Wenn meine Regierung oder mein Staat oder mein Land mich in meiner künstlerischen Freiheit so sehr einengt oder Dinge versucht zu zensieren, dann muss ich das auch als Künstler benennen dürfen, solange ich natürlich Gesetze achte innerhalb meiner Gesellschaft."

Kritik an Deutschland

Für Nuran David Calis ist die Botschaft seiner Inszenierung mit türkischen, armenischen und deutschen Schauspielern hochaktuell: "Das Herumagieren um Menschenwerte zugunsten eines bestimmten politischen Ergebnisses, das man sich von der Türkei wünscht, das hat natürlich schon extreme Tendenzen von damals." Deutschland habe 1915 die Augen vor dem Mord an den Armeniern verschlossen, weil die Türkei ein wichtiger Partner gewesen sei. Ein ähnliches Verhalten sei heute auch zu beobachten. Und er betrachte es als seine Pflicht als Künstler, diesen "roten Faden, der sich bis heute zieht" zu benennen.

Das Interview im Wortlaut:

Nana Brink: Die Türkei – der Fall Böhmermann hat es ja gezeigt – versteht überhaupt keinen Spaß, wenn andere Menschen eine andere Haltung haben. Das hat sie ja im Fall Böhmermann, wie gesagt, gezeigt, und man hat fast den Verdacht, dass sie einen Suchtrupp unterhält, der sich in Europas und in der deutschen Kulturszene umsieht, wo überall etwas gesagt oder aufgeführt wird, was nicht der formalen Sprache entspricht. Zum Beispiel hat die Türkei bei der EU-Kommission sich beschwert, weil ein mit EU-Geldern gefördertes Projekt der Dresdner Sinfoniker ihr nicht passt.
Genauer gesagt passt ihr nicht, dass dort der Völkermord an den Armeniern, der ja vor über 100 Jahren begonnen hat und fast anderthalb Jahre dauerte, auch Völkermord genannt wird. Und gespannt kann man sein, ob die Türkei diese Woche wieder vorstellig wird, nämlich in München. Da steht am Freitag das Stück "Die vierzig Tage des Musa Dagh" nach einem Roman von Franz Werfel auf der Bühne. Der Regisseur Nuran David Calis, in dessen Familie türkische, armenische und jüdische Traditionen vereint sind, der hat das zur Vorlage für seine Inszenierung genommen. Und ich habe ihn gefragt: Spricht er von Völkermord?
Nuran David Calis: Ja, das tun wir. Wir gehen auch keinen Schritt von dieser Linie zurück.
Brink: Das wollte ich nämlich gerade fragen, denn in Dresden hat man nämlich als Reaktion auf den türkischen Protest die Informationen von der Internetseite der EU-Kommission genommen. Man kann sie jetzt wieder lesen. Sie würden also nichts ändern, wenn die Türkei protestiert?
Calis: Nein, das würden wir nicht machen. Das steht auch überhaupt nicht zur Debatte, es hat sich auch niemand gemeldet. Wir werden unsere künstlerische Linie auch beibehalten und die Wahrheit zutage bringen an dem Abend. Also, da gibt es auch nichts zu beschönigen, das wird ein sehr brutaler Abend, der sich auch sehr tiefgründig mit diesem Thema des Völkermords auseinandersetzt, in dem die Deutschen, die Armenier und die Türken auch alle auf ihre Art und Weise auch damals, 1915, involviert waren.
Brink: Was ist denn für Sie die Wahrheit?
Calis: Die Wahrheit ist, dass 1,5 Millionen Armenier umgebracht worden sind, in die Verbannung geschickt worden sind, in die Wüste geschickt worden sind. Und dass unter dem Deckmantel des Ersten Weltkrieges es auch toleriert wurde von der deutschen Seite und die türkische Regierung bis heute diese Tatsache leugnet und dass das armenische Volk, das türkische Volk und auch die deutsche Gesellschaft immer noch nicht diesen gordischen Knoten miteinander gelöst hat.
Brink: Weil das Deutsche Reich eben ein Verbündeter des Osmanischen Reiches damals war. Sie haben sich aber eines Stückes von Franz Werfel bemüht, das ist ja auch schon über 80 Jahre alt. Warum war Ihnen das wichtig, was ist so aktuell daran, warum haben Sie das benutzt?
Calis: Die grundlegende Frage ist überhaupt: Kann ein Völkermord auf die Bühne gebracht werden? Das ist natürlich eigentlich nicht möglich. Darüber hinaus muss natürlich auch ein Künstler sich immer wieder fragen, die Mittel, die er benutzt, um vielleicht das Grauen hervorzuholen, also auch sich selber infrage zu stellen, mit welchen Mitteln man dieses Traumas oder dieses Tabus sich nähert und versucht, die Wahrheit so zu finden. In dem Theater, mit dem wir uns jetzt beschäftigen, stehen auch türkische, armenische und deutsche Schauspieler auf der Bühne, die eigentlich mit einem archäologischen Akt anfangen, in ihrer Lebensgeschichte und in ihrer Vergangenheit mit ihrem Land zu forschen.
Und im Grunde opfern wir da sozusagen die europäischen oder die Werte, die menschlichen Werte zugunsten eines Partners, der sich auch in vielen Fragen der Menschlichkeit einfach gerade extrem verrennt. Diese Seite konfrontieren wir natürlich auch mit der türkischen Seite, die auch auf der Bühne ihre Berechtigung hat anhand eines türkischen Schauspielers, der natürlich extrem gegen diese Angriffe sich wehrt und auch mal versucht, uns vielleicht als Zuschauer zu zeigen, wie es von der Türkei-Seite aus gefühlt und gedacht wird.
Brink: Pardon, aber Sie vergleichen das beide schon, habe ich jetzt Ihren Äußerungen genommen?
Calis: Genau, wir versuchen auf jeden Fall, eine Brücke zu finden zum Hier und Jetzt, indem sich natürlich die Fehler von damals und dieses Herumagieren um Menschenwerte zugunsten eines bestimmten politischen Ergebnisses, was man sich von der Türkei wünscht … Das hat natürlich schon extreme Tendenzen von damals. Und auch spürt man in dem Roman und auch in der Auseinandersetzung, wie weit sich dieser rote Faden auch bis heute noch zieht.
Brink: Aber ist es nicht vermessen, einen Völkermord, wie er damals passiert ist, mit dem, was heute in vielen Teilen Kurdistans passiert, zu vergleichen?
Calis: Nun ja, ich finde, ein Menschenleben, das zugunsten eines politischen Ergebnisses, was man versucht herauszuholen mit der Türkei, eigentlich schon zu viel ist. Im Grunde lässt man die Türkei jetzt da natürlich, was die Kurdenproblematik hat, natürlich wüten, wie man möchte. Und da ist es natürlich legitim, mich als Künstler zu fragen, inwieweit ich da Zusammenhänge sehe zwischen damals und heute. Ich kann nur sagen, dass genauso wie damals und heute die europäische Seite oder auch die deutsche Seite einfach zugunsten dieses Partners, der extrem wichtig ist in dieser Region, einfach die Augen verschließt. Und ich sehe einfach ganz genau darin das armenische Dilemma von 1915.
Brink: Haben Sie denn dann die Vorgänge um das Dresdner Projekt, was ich ja eingangs geschildert habe, auch die Haltung der EU, also das erst mal von der Internetseite zu nehmen … Was halten Sie davon?
Calis: Das war natürlich ein Akt der Unmöglichkeit, das war total erbärmlich, dass die EU sich da in ihre Leitlinien hat hineinmanövrieren lassen über die türkische Regierung, und das ist ein Armutszeugnis. Ich bin ja Künstler geworden und kein Aktivist. Also, als Künstler mache ich mir natürlich auf allen Seiten Feinde mit diesem Projekt, da nehme ich mir auch die Freiheit, das zu sagen, was ich auch in dem Moment denke und fühle: Wenn meine Regierung oder wenn mein Staat oder mein Land mich in meiner künstlerischen Freiheit so sehr einengt oder Dinge versucht zu zensieren, dann muss ich das auch als Künstler benennen dürfen. Solange ich natürlich Gesetze achte innerhalb meiner Gesellschaft.
Brink: Dann frage ich Sie jetzt als Künstler: Kann man in so einem Klima überhaupt noch einen Dialog der Kulturen hinbekommen, also zwischen der Türkei und Deutschland?
Calis: Das ist jetzt ein interessanter Punkt. Als Künstler frage ich mich natürlich, bin ich in der Lage, das zu überwinden, diesen gordischen Knoten beiseite zu legen und trotzdem auf meine türkischen Mitbürger zuzugehen? Und es ist so, dass ich natürlich eine ganz große Identität auch in der Türkei habe, ich liebe dieses Land, meine Großeltern liegen dort in ihren Gräbern in Istanbul, mein Vater ist in Sinop geboren, meine Mutter in Istanbul. Und ich bin sehr oft in diesem Land, bin natürlich auch gleichzeitig zerrissen.
Es gibt einen ganz großen Teil in mir, der um dieses Land so wahnsinnig kämpft. Denn wir dürfen nicht vergessen, bei aller Härte, die wir natürlich auch dieser türkischen Regierung ins Gesicht werfen, dass sie natürlich auch drei Millionen Flüchtlinge gerade aufnimmt und sie füttert. Und ein Teil meiner Identität ist verwurzelt mit diesem Land und es kämpft um dieses Land und ein anderer Teil meiner Identität, dessen Strang natürlich die armenische ist und bei dem viele Menschen aus meiner Familie gestorben sind oder in der Diaspora leben, kämpft auch gegen dieses Land.
Und ich versuche natürlich irgendwie, über dieses Traumata und diese Tabus, die mich halt auch in meiner Lebensgeschichte und Biografie verfolgt haben, in irgendeiner künstlerischen Form zutage zu bringen. Und da sage ich jetzt noch mal: Ich bin weder der lange Arm der armenischen Gemeinde noch der lange Arm der Türkei oder der lange Arm der deutschen Vertretung, ich versuche natürlich, möglichst direkt und konsequent in diese Geschichte reinzugehen und zu gucken, wo liegt dieses Trauma, wo liegt die Wahrheit zu Grabe, die ich ans Tageslicht bringen möchte?
Brink: Der Regisseur Nuran David Calis. Diesen Freitag hat seine Inszenierung von Franz Werfels "Die vierzig Tage des Musa Dagh" im Münchener Marstall Premiere.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema