Trittin: "Massive Verfilzung" zwischen Aufsichtsbehörden und AKW-Betreibern in Japan

Jürgen Trittin im Gespräch mit Jan-Christoph Kitzler · 16.06.2011
Angesichts einer "unheiligen Front von mächtigen, kapitalstarken Wirtschaftsinteressen" seien die Anti-Atomdemonstrationen in Japan am vergangenen Wochenende als Erfolg zu werten, sagt Jürgen Trittin. Der Grünen-Fraktionschef befindet sich derzeit in Fukushima, um sich ein Bild von der Lage zu machen.
Jan-Christoph Kitzler: Es ist immer so nach großen Katastrophen: Irgendwann lässt die Aufmerksamkeit nach. Und mit der Atomkatastrophe in Japan, die uns seit dem 11. März beschäftigt hat, ist es auch ein wenig so. Es gibt ja auch noch andere Krisenherde, zum Beispiel Syrien oder Libyen. Damit Fukushima nicht vergessen wird und auch, um den Menschen dort Hoffnungen zu machen, kommt jetzt auch Besuch aus Deutschland. Volker Kauder, der CDU-Fraktionschef, war zu Beginn der Woche in der Krisenregion im Nordosten Japans, Jürgen Trittin, der Fraktionschef der Grünen, hat sich sogar in die Präfektur Fukushima gewagt. Heute erreichen wir ihn sieben Stunden später als bei uns in Tokio. Schönen guten Tag, Herr Trittin!

Jürgen Trittin: Guten Morgen!

Kitzler: Gestern waren Sie ja rund 40 Kilometer weg vom Atomkraftwerk in einem Evakuierungslager. Welche Eindrücke haben Sie dort gesammelt?

Trittin: Nun erstens, wenn Sie die Küste sehen und sehen, mit welcher Gewalt dort die Flutwelle reingeschlagen hat, dann verstehen Sie, warum die Japaner von drei Katastrophen sprechen. Die einfachste sei das Erdbeben gewesen, die beiden anderen waren eben verheerend: über 20.000 Tote, immer noch unzählige Vermisste durch den Tsunami, und dann die Reaktorkatastrophe, Kernschmelze in drei Blöcken. Eine Kernschmelze, die übrigens immer noch anhält.

Noch immer treten aus dem Atomkraftwerk radioaktive Substanzen aus, werden durch Wasser ausgetragen. Man versucht verzweifelt, dieses Wasser zu filtern, aber bis heute verunreinigt das Atomkraftwerk die Umgebung, und nach wie vor ist der Prozess nicht unter Kontrolle. Davon, dass der Reaktor in einem kalten Zustand, das heißt einem relativ ungefährlichen Zustand ist, ist man nach allen Auskünften, die wir hier haben, noch Monate entfernt.

Kitzler: Es ist ja klar, dass die Umgebung des Kraftwerks für längere Zeit unbewohnbar sein wird, die Evakuierungszone soll möglicherweise sogar ausgedehnt werden noch, von jetzt 20 Kilometer auf eine weitere Zone. Sie haben jetzt auch Anwohner getroffen, die nicht nach Hause können, die in einem Evakuierungszentrum sind. Was haben die Ihnen gesagt?

Trittin: Das ist eigentlich das ganze Drama, was wir an dieser Stelle haben. Dieses Drama besteht darin, dass Menschen, die haben ihre Wohnung verloren, sie haben ihren Arbeitsplatz verloren, sie haben, viele Kinder, auch ihren Platz in der Schule verloren. In den Evakuierungscamps sind Menschen, die sind inzwischen im achten Camp, das heißt für die Kinder oft drei-, viermal in drei Monaten die Schule gewechselt zu haben. Hier findet also eine ganz massive Entwurzelung statt, das ist ein Stück humanitäre Katastrophe, für die es hier noch keine wirkliche Antwort gibt.

Die Menschen sehen es teilweise sehr realistisch, dass sie in diese Orte nicht zurückkehren können, sie wollen aber in der Region bleiben, und das setzt eben voraus nicht nur den Bau neuer Häuser, sondern eben auch die Möglichkeit, in dieser Region dann auch zu arbeiten, die Kinder zur Schule zu schicken.

In dieser ganzen Alltäglichkeit wird einem eigentlich deutlich, welches Drama sich dort abgespielt hat, was die gesellschaftlichen, die menschlichen Kosten einer solchen Katastrophe sind. Und dass da manche Diskussion auch in Deutschland über theoretische Blackouts einem ein bisschen verfehlt auch gelegentlich vorkommen, das ist mir da sehr deutlich geworden.

Kitzler: In Japan gibt es ja inzwischen auch mehr Menschen, die gegen die Atomkraft sind. Vor Kurzem waren Tausende bei Demonstrationen auf der Straße, für dieses Wochenende ist auch wieder eine große Demonstration angekündigt, aber das alles ist noch weit entfernt von der großen Anti-Atombewegung bei uns in Deutschland. Warum ist das so?

Trittin: Ich glaube, dass die japanische Gesellschaft, die in vielen Fällen sehr, sehr konsensorientiert ist, sich häufig schwerer damit tut, Protest auf die Straße zu tragen und auch nach außen zu tragen.

Das Zweite ist, es gibt natürlich eine massive Verfilzung zwischen Aufsichtsbehörden, zwischen der Firma, die dieses AKW betreibt, Tepco, die über Jahre hinweg Subventionen, um nicht zu sagen Schmiergelder gezahlt haben an die Gemeinden, in denen die Atomkraftwerke stehen. Das heißt, die Anti-Atombewegung steht einer unheiligen Front von mächtigen, kapitalstarken Wirtschaftsinteressen und einer sehr etablierten Öffentlichkeit gegenüber. Und insofern sind die 60.000, die sich am letzten Wochenende bewegt haben, und die 50.000, mit denen man an diesem Sonntag in Tokio alleine rechnet, natürlich ein Riesenerfolg für Japan.

Kitzler: Sie haben gerade schon von Tepco gesprochen, mit Vertretern des Konzerns wollten Sie sich eigentlich auch treffen – was ist dabei herausgekommen?

Trittin: Wir sind etwas verwundert. Wir sprechen ja auch in Deutschland mit RWE, mit E.ON, auch mit den Vorstandsvorsitzenden dort ganz selbstverständlich, ich meine, vielleicht sogar häufiger als Frau Merkel. Wir haben den gleichen Wunsch in Japan geäußert, das ist rundweg abgelehnt worden. Es gibt keine Gespräche der Betreiberfirma mit irgendwelchen ausländischen Delegationen, wurde uns mitgeteilt.

Ich bin darüber verwundert, denn auf der anderen Seite ist es so, wenn man mit staatlichen Stellen spricht, dann sind wir häufig darauf angewiesen, dass die sagen, ja, Tepco hat uns erzählt. Also hier findet auch ein Stück Versteckspiel statt.

Kitzler: Mal abgesehen von Tepco, wie interessiert ist man eigentlich in Japan am deutschen Weg, am deutschen Atomausstieg?

Trittin: Hochgradig interessiert. Die Regierung Kan hat am 11. März noch ein Gesetz zur Einspeisung erneuerbarer Energien nach dem Vorbild des deutschen EEG auf den Weg gebracht. Man weiß, so der stellvertretende Chef sozusagen des Kanzleramts, würde man bei uns sagen, mit dem wir gesprochen haben, der sehr deutlich gesagt hat, die jetzt ausfallenden nuklearen Kapazitäten – das sind ja mindestens die vier Blöcke in Fukushima, aber auch noch zwei weitere –, die sollen ersetzt werden durch den Ausbau erneuerbarer Energien, nicht durch den Neubau von Atomkraftwerken. Das halten alle zurzeit auch für sehr, sehr unwahrscheinlich, dass hier es zum Neubau kommen wird.

Das heißt, in der japanischen Energiepolitik bewegt sich tatsächlich viel. Und man schaut dann nach Deutschland, weil Deutschland ein Land ist, was industriell und vom Wohlstandsniveau ja durchaus vergleichbar mit Japan ist.

Kitzler: Das war Jürgen Trittin, der Fraktionschef der Grünen im Bundestag, zurzeit unterwegs in Japan. Vielen Dank Ihnen und später dann eine gute Heimreise!

Trittin: Danke Ihnen, tschüss!
Jürgen Trittin
Jürgen Trittin ist gerade vor Ort in der Region Fukushima.© AP
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