Trist und grau - bunt und schrill

Die Berliner Mauer 1962, vom Westen aus betrachtet
Die Berliner Mauer 1962, vom Westen aus betrachtet © Deutschlandradio
Rezensiert von Astrid Kuhlmey · 12.08.2005
Fast 16 Jahre nach dem Fall der Mauer verblasst für viele die Erinnerung an das Leben in Ost-Berlin. Mit ihrem neu aufgelegtem Buch "Ost-Berlin - Leben vor dem Mauerfall" zeigen der Schriftsteller Lutz Rathenow und der Fotograf Harald Hauswald nicht nur die graue Tristesse, sondern auch das bunte und schrille Leben in der Hauptstadt der DDR.
Morgen ist nicht nur Samstag, morgen ist auch der 13. August. Jüngere Menschen werden sich da fragen: Na und? Ältere haben sofort Bilder und Geschichten im Kopf, denn für viele von ihnen ist der 13. August ein traumatisches deutsches Datum: denn an diesem Tag wurde das Land durch eine Mauer geteilt – 28 Jahre lang bis zum 9. November 1989 lebten Menschen in Ost und West – in Ostdeutschland oder Westdeutschland – in bunten Westberlin oder im grauen Ostberlin.

Das kann man sich heute mitunter kaum noch so richtig vorstellen und von der Mauer findet man nur noch schmale Backsteinstreifen als Erinnerungsmomente im Berliner Straßenpflaster. Jetzt ist alles Neuberlin – den alten Osten muss man suchen, sich davon erzählen lassen oder ihn in Fotos nachempfinden.

Über dieses alte Ostberlin, hinter der beinahe undurchlässigen Mauer haben der Fotograf Harald Hauswald und der Schriftsteller Lutz Rathenow ein Buch gemacht, das in einer überarbeiteten Neuauflage beim Jaron Verlag erschienen ist.

"Der Tag des Mauerbaus am 13. August 1961 war ein sonniger Sonntag – am Abend vorher bin ich noch aus einem Kino am Kurfürstendamm gekommen. Auf dem Rückweg - natürlich sind wir gelaufen – durch das Brandenburger Tor habe ich am späten Abend des 12. August gar nichts gemerkt – erst der nächste Tag brachte das wortwörtlich schlimme Erwachen: es wurde eine Mauer durch Berlin gebaut. Natürlich glaubten wir nicht, dass wir so lange dahinter würden leben müssen."

Die Fotos von Hauswald balancieren zwischen künstlerischem und dokumentarischem Blick. Sie haben eine sehr genaue soziale Optik und wirken ungemein lakonisch. Alle Schwarz–Weiß, denn Ostberlin war eine schwarz-weiße Stadt mit einer Fülle von Grau-Nuancen: die alten heruntergekommenen Gründerzeithäuser mit den Narben des Zweiten Weltkrieges und der Verwahrlosung durch Mangel und Gleichgültigkeit in der real-sozialistischen DDR. Graue kleine Pappautos bestimmten das Straßenbild, von farbigen Konsumverlockungen weit und breit keine Spur. Aber : Schwarz-Weiß hat viel mehr Stil, kann Nuancen verfeinern, kann Atmosphäre herstellen, die nicht grell wirkt und Schwarz–Weiß ist minimalistisch, auf das Wesentliche fokusiert, ein Leben ohne zumindest äußerliche Verheißungen ..

Hauswald beobachtet sanft, ist nie höhnisch – auch nicht angesichts von Mangel. Eine alte Frau bekommt Kohlen – es sind Berge, die sie in dem verfallenen, zugigen Haus brauchen wird. Sie steht zart und zerbrechlich vor den Massen.

Hausmann geht durch die relativ leeren Straßen und fotografiert die auch durch einen frühen DEFA Film legendäre Berlin – Ecke Schönhauser: eine Kreuzung, an der sich unter dem Magistratsschirm sechs Straßen treffen. Über allem liegt Melancholie.
Doch der Fotograf hält auch die aufmüpfigen Happenings der Szene im Prenzlauer Berg fest: illegale Rockkonzerte in herunter gekommenen Hinterhöfen, die noch aussehen wie nach dem Krieg. Hier sieht keiner wie der andere aus, hier inszenieren sich die Aussteigen und Unangepassten mit allen Insignien, die auch westliche Punks, Grufties oder Hippies lieben.

Lutz Rathenows Texte begleiten das Geschehen wie Flaneure – sie ergänzen die Bilder, erweitern Hintergründe und liefern persönliche Assoziationen zum Geschehen. So wenn er die allgegenwärtigen unauffälligen Männer beschreibt, denen er immer und immer wieder begegnet, sie manchmal ironisch – freundlich grüßt, weil er weiß, dass sie beobachten, notieren und weiterspitzeln. Und Rathenow macht durch seine gänzlich unverbissenen Texte verständlich, warum diese scheinbar so graue Stadt eine Verführung sondergleichen war – zum einen war sie nicht so leicht zu überschauen wie die provinzielle Enge. Ihre maroden Häuser mit den Balkons vor dem Absturz waren Höhlen für Lebensformen, die weder eine Kleinstadt, noch ein Dorf oder eine saubere Plattenbausiedlung zuließen.
Hier wurde gelebt, getrunken, geliebt und betrogen – nicht selten auch verraten – das ganze wunderbare, böse Leben – nicht schöngefärbt, nicht glatt gebügelt oder weichgespült.
Texte und Bilder ergänzen und bespiegeln sich.

Beide – Hauswald und Rathenow – haben in Texten und Bildern Beobachtungen fixiert, die gänzlich gegen die offizielle Staats- und Parteidoktrin liefen. Kein hohles Pathos, keine verquasten Zukunftsideen – nichts von sozialistischer Menschengemeinschaft. Ich habe solche Hinterhofausstellungen in privaten Galerien oder Kirchenräumen erlebt – aber dabei handelte es sich um kleine Szenen, von Öffentlichkeit konnte gar keine Rede sein. Doch für diese kleinen Projekte interessierte sich die Staatssicherheit mit großem Engagement. Das bekamen auch die beiden Künstler mehrfach zu spüren. Hausdurchsuchungen, Bespitzelungen und kurzzeitige Verhaftungen.

In der sich aufweichenden oder zerbröselnden DDR wagten einige Leute – vor allem Künstler – doch immer mehr als erlaubt war. Hauswald und Rathenow gehörten auch dazu.

Die Provokation fängt schon beim ursprünglichen Titel an: 1987 als Ost - und im Übrigen auch Westberlin die 750-Jahr-Feier der Stadt mit Pomp und Berlin-Folklore feierten und Ostberlin die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik (denn nur so durfte man die Teilstadt offiziell nennen) noch mehr raushängen ließ als üblich, da erscheint beim Klassenfeind ein Buch mit dem Titel "Ost-Berlin – die andere Seite einer Stadt" – die DDR Oberen schäumten. Verrat.

Auf der Leipziger Messe wurde das Buch am Stand des Piper Verlages sofort beschlagnahmt. Im Westen war es nach einem Jahr vergriffen. 1989, im Jahr des Mauerfalls kam es als bibliophile Ausgabe bei Harenberg im Westen wieder raus und ein Jahr später beim Basis Druck Verlag, einer Initiative der ostdeutschen Bürgerbewegung. Und das Buch inzwischen Kultstatus hatte, war es auch bald wieder vergriffen.
Nun ist es beim Jaron Verlag in überarbeiteter Ausgabe erschienen. Mit deutschem und englischen Text, der Rezeptionsgeschichte im Vorwort und einigen bisher noch nie veröffentlichten Fotos.
Es ist eine dringliche Empfehlung für die, die die Zeit kennen und die Bilder nur noch vage im Kopf haben, für die jungen Szenegänger, die nur die repräsentable Ausgabe der Straßen und Plätze in Mitte und Prenzlauer Berg kennen, auch für die, die in lähmender Gute-Alte-Zeit–Stimmung versinken und schließlich auch für die, die glauben, dass dieses Ost-Berlin ja so öde und langweilig war.
An vielen Stellen ja – aber eben nicht nur. Da haben Menschen gelebt – und richtig hingeschaut und hingehört wie es Hausmann und Rathenow getan haben, spürt man: Menschen sind selten langweilig.

Harald Hauswald/ Lutz Rathenow
Ost-Berlin - Leben vor dem Mauerfall
Jaron Verlag
Broschur, 12 Euro