Triptychon mit schlingernden Raum-Zeit-Koordinaten

Rezensiert von Maike Albath · 10.10.2005
Erst mit 46 Jahren debütierte der 1947 in Mantua geborene Antonio Moresco. In seinem Roman "Aufbrüche" schildert er drei Stationen im Leben eines jungen Mannes. Dabei geraten immer wieder die Raum-Zeit-Strukturen ins Schlingern, und als sich im dritten Teil des Romans der Protagonist als der Verfasser von Teil eins und Teil zwei entpuppt, wird das kunstvolle Gebilde der Erzählebenen noch einmal auf den Kopf gestellt.
Antonio Moresco sieht gar nicht aus wie ein Kampfhahn. Er beansprucht wenig Raum unter den eiligen Mailänder Fußgängern an der Porta Romana, wo er uns mit leiser Freundlichkeit in Empfang nimmt. Aber genau dieser Mann löste Ende der 90er Jahre einen erbitterten Literaturstreit aus.

Moresco: "Wenn intelligente Menschen plötzlich vor einer Mauer stehen, fangen sie an zu überlegen und beschließen, eine Treppe zu bauen oder mit Hilfe von ein paar Nägeln drüber zu klettern, andere gehen drum herum. Dumme Menschen wie ich hauen mit dem Kopf dagegen, immer wieder, um zu sehen, ob zuerst die Mauer oder zuerst der Kopf kaputt geht. In meinem Fall brach zuerst die Mauer zusammen, aber genau eine Sekunde, bevor mein Kopf endgültig drauf ging. "

Moresco beging ein Sakrileg und brachte ein Arbeitstagebuch heraus, das die Odyssee seines unveröffentlichten Romans Aufbrüche durch die italienische Kulturwelt schilderte, was kein sehr schmeichelhaftes Licht auf deren Repräsentanten warf: ein Wirrwarr aus Gefälligkeiten und Intrigen, namhafte Professoren und Kritiker, die sich wie Barone gebärdeten. Fast wäre Morescos Hauptwerk gar nicht mehr erschienen, so übel nahm man ihm die Anklage. Doch bevor wir die Machenschaften des Literaturbetriebs endgültig klären können, sind wir bei seinem Wohnhaus angelangt. Wir bewundern die Magnolie im Innenhof und klettern ins oberste Stockwerk hinauf.

In seiner besonnenen Art erinnert der Schriftsteller ein bisschen an den Seminaristen, der er in seiner Jugend war. Eines Tages schlug seine Schüchternheit in politische Militanz um. Denn wie viele seiner Altersgenossen driftete Moresco nach den Unruhen von 1968 eine ganze Dekade lang in extremistische Gruppierungen ab: kein fester Wohnsitz, statt dessen Aktionen überall in Italien, die ihm Prozesse und Haftstrafen bescherten. Mit 30 Jahren kehrte er nach Mailand zurück.

Moresco: "Schreiben war die einzige Möglichkeit. Ich war wie ein Analphabet, wie ein Blinder, der sich in der Welt zurecht finden musste. Morgens brachte ich meine Tochter zum Kindergarten, dann setzte ich mich an den Küchentisch und fing an zu arbeiten."

Ein grandioser surrealer Bilderbogen wird vor unseren Augen aufgeblättert, grell und beklemmend, mit ausufernden Beschreibungen, alptraumartigen Sequenzen und Figuren von Beckettscher Einsamkeit. Morescos Roman Aufbrüche ist ein Triptychon, das drei Stationen aus dem Leben eines jungen Mannes zum Gegenstand hat.

Im ersten Teil befindet sich der beständig schweigende Ich-Erzähler in einem Priesterseminar; später besucht er seinen Oheim in einer herrschaftlichen Villa, wo er die Anstrengungen einer Hühneraugenoperateurin beobachtet, auf dem Fahrrad Müllberge umkreist und mit einer schielenden Freundin in einem sich ständig ausdehnenden Bett übernachtet.

Im zweiten Teil gewinnt die Groteske kafkaeske Züge. Der Held ist plötzlich Wortführer einer revolutionären Zelle, ohne die Inhalte seiner Reden erfassen zu können, und bereist mit einem merkwürdigen Gefolge das "Land der Befiederten".

Moresco: "Mein Held ist in gewisser Hinsicht gelähmt und betäubt. Er bewegt sich in einem Schockzustand durch das Leben und beherrscht die äußere Wirklichkeit nicht aus seinem Inneren heraus, was dazu führt, dass er die Realität auf eine panische Art und Weise wahrnimmt. Es gibt durchaus eine Fortentwicklung, aber eine sehr langsame. Es handelt sich um eine kreisende Bewegung, die in Kurven verläuft und nicht über logische Verknüpfungen. "

Immer wieder geraten die Raum-Zeit-Strukturen ins Schlingern, und als sich im dritten Teil des Romans der Protagonist als der Verfasser von Teil eins und Teil zwei entpuppt, wird das kunstvolle Gebilde der Erzählebenen noch einmal auf den Kopf gestellt.

Inmitten einer apokalyptischen Mailänder Stadtlandschaft wirken die Akteure wie Überlebende einer Katastrophe. Ein zwielichtiger Verleger, hinter dem sich der ehemalige Präfekt des Seminars verbirgt, will das Manuskript veröffentlichen, wird aber dauernd wortbrüchig. Den Schlussakkord bildet ein Fest, bei dem Puschkin, Cervantes und Leopardi zugegen sind.

Moresco: "Am Meeresrand gibt es diese schäumenden Wellen, es wirkt so, als entstünde eine starke Bewegung, aber weiter draußen herrschen langsame, stetige Strömungen, durch die sich sämtliche Wassermassen verschieben, obwohl es das Auge gar nicht erkennen kann. Mich interessieren diese Strömungen. Nicht das Gekräusel am Ufer. "

Darin liegt die Radikalität Morescos: im Zwiegespräch mit der literarischen Tradition prägt er eine eminent moderne Bildlichkeit. Er stellt das rationalistische Weltverständnis in Frage, kultiviert das Unscharfe und reizt dessen Erkenntnispotenzial aus. Einfach ist Antonio Morescos Roman nicht. Mitunter nutzen sich die phantastischen Übersteigerungen ab, manchmal tritt die Geschichte auf der Stelle und erstarrt. Aber ihm gelingt eine atemberaubende Allegorie Italiens.


Antonio Moresco: Aufbrüche
Aus dem Italienischen von Ragni Maria Gschwend.
Ammann Verlag, Zürich 2005.
656 Seiten. 29,90 €