"Trend zu milderen Wintern abgebremst"

Von Christopher Kersting · 19.10.2013
Die Eisschmelze am Nordpol schwächt den milden Westwind - und das kann in unseren Breiten zu kälteren Wintern führen. Aber: Die globale Erwärmung ist stärker als der Einfluss des Meereises. Und so werden die Winter am Ende doch nicht kälter. Nur der Trend zu milderen Wintern wird Forschern zufolge abgeschwächt.
Eine Expedition mit der "Polarstern", dem Flaggschiff der deutschen Arktis- und Antarktisforschung. Auf ihren Fahrten sammeln die Wissenschaftler des Bremerhavener Alfred-Wegener-Instituts (AWI) Messdaten und Proben. An Bord sind Geologen, Gletscher- und Meeresforscher – ein spektakulärer Job auf den Eismeeren.

Nicht ganz so spektakulär, aber ebenso wichtig ist die Berechnung und Auswertung von Daten in der AWI-Zentrale in Bremerhaven. Klimaforscher Tido Semmler geht mit einer Kollegin am Rechner Wetterdaten durch. Die AWI-Wissenschaftler untersuchen, inwieweit Wetterprognosen in den Tropen oder anderswo auf der Welt Vorhersagen auch für Europa genauer machen können – sie zerlegen quasi das Phänomen Wetter in seine Bestandteile, die sich gegenseitig bedingen.

Die zurzeit wohl stärksten Klimaänderungen beobachten die Forscher in der Region um den Nordpol: den Rückgang des arktischen Meereises. Dessen südliche Grenze liegt im Winter nur 3000 Kilometer von Berlin entfernt – global gesehen fast vor unserer Haustür also. Durch die relative Nähe habe die Nordpolregion tatsächlich erheblichen Einfluss auf das Wetter in unseren Breitengraden, erklärt Tido Semmler. Dabei passiere in unmittelbarer Nachbarschaft des Meereises, in Skandinavien also, zunächst einmal das, was zu erwarten wäre:

"Es ist also so, dass der Rückgang des arktischen Meereises zunächst erst mal über Nordeuropa auch zu einer Erwärmung führt, weil einfach weniger kalte Luft in diese nördlichen Regionen aus der Arktis transportiert wird. Jetzt ist es aber speziell so, dass hier in Mitteleuropa durch Zirkulationsänderungen, also Änderungen in der allgemeinen Windlage, sich dadurch der Westwind leicht abschwächt. Man muss sich das so vorstellen, dass die Arktis wärmer wird, und damit der Temperaturunterschied zwischen den Tropen und der Arktis kleiner wird. Und dieser Temperaturunterschied treibt unsere Windbewegungen an. Und dadurch dass der Unterschied kleiner wird im Winter, bekommt man die Tendenz zu weniger starkem Westwind."

Durch dünneres Eis erwärmt sich Ozean schneller
Genau dieser Westwind aber ist in der Regel verantwortlich dafür, dass milde Luft vom Atlantik her zu uns strömt. Wird der Westwind schwächer oder bleibt aus, kann das dazu führen, dass es bei uns merklich frostigere Winter gibt. Wie genau und in welchem Ausmaß das arktische Meereis das Wetter über Mitteleuropa tatsächlich beeinflusst, sei dabei noch nicht vollständig geklärt, gibt Tido Semmler zu bedenken. Allerdings gibt es eine plausible Theorie zum Wirkmechanismus.

"Man kann sich das so vorstellen, dass das Eis praktisch den Wärmetransport in die Atmosphäre abschirmt. Also je dicker das Eis ist, desto weniger Wärme vom darunter liegenden Ozean kann durch das Meereis durchdringen und in die Atmosphäre gelangen."

Denn der arktische Ozean ist mit Temperaturen um die Null Grad tatsächlich relativ warm – gemessen an Lufttemperaturen bis zu minus 40 Grad im arktischen Winter.

"Das heißt, wenn jetzt das Meereis deutlich dünner wird, dann kann einfach mehr Wärme vom Ozean an die Eisoberfläche transportiert werden. Durch Wärmetransport, Wärmeleitung durch das Eis."

Die Erwärmung des arktischen Meeres wird dabei noch verstärkt durch das, was Experten wie Tido Semmler als Albedo-Effekt bezeichnen: Geht das Meereis zurück, wird auch weniger Sonnenlicht vom weißen Eis ins All reflektiert. Stattdessen absorbiert der dunkle Ozean das Licht und wird dadurch wärmer, mit der Folge, dass der Meereispanzer stärker schmilzt und es im Herbst länger dauert, bis sich neues Eis bildet.

Kältere Winter bei uns durch schmelzendes Eis in der Arktis – ganz so einfach ist die Rechnung laut AWI-Experte Semmler dann aber doch nicht. Denn unter dem Strich sei der Trend zur globalen Erwärmung doch stärker als der Einfluss des Meereises auf unsere Winter:

"Das heißt, im Mittel müssen wir uns gar nicht auf kältere Winter einstellen, sondern es heißt nur, dass der Trend zu milderen Wintern, den wir ja davor beobachtet hatten bis in die 1990er-Jahre, abgebremst wird."
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