Traumhaftes in einer Grenzstadt

Von Elisabeth Nehring · 20.07.2008
Wer so selten weg komme, müsse sich die Kunst in die Stadt holen, sagt die Tanztheaterchefin Gundula Peuthert. Für ihr TanzArtFestival hat sie deswegen für eine Woche Kompanien aus Deutschland, Polen, Israel, Tschechien und der Schweiz in die deutsch-polnische Grenzstadt Görlitz-Zgorzelec eingeladen. Dabei lässt die Stadt räumliche Freiräume, von denen Künstler andernorts nur träumen können.
Als die letzten Fetzen der Musik verklingen, sitzen die Tänzer schon längst am Boden, bereit zum verbalen Austausch. "Wie oft warst du 'drüben' in der ganzen Zeit, die du schon in Görlitz lebst", fragt eine Kollegin die andere. "Drüben" - das heißt, in Zgorzelec, dem polnischen Teil der Stadt Görlitz. "Nicht oft", antwortet die, "und wenn, dann vor allem, um Zigaretten zu kaufen."

Auch die nächsten geben nach und nach zu, dass ihnen die andere Seite der Stadt relativ unbekannt geblieben ist. Der polnische Teil ist nur einen Steinwurf entfernt und scheint doch eine andere, fremde Welt zu sein.

Für alteingesessene Görlitzer mögen dies keine neuen Erkenntnisse sein, doch der ortsunkundige Zuschauer kann in dem Stück "2:0" von Christoph Winkler allerhand Überraschendes über das alltägliche Leben in der Europa-Stadt Görlitz lernen. Etwa, dass das triste Zgorzelec an Berlin-Prenzlauerberg zu Ost-Zeiten erinnert oder dass das Auge stets das Schöne sucht und man schon deswegen lieber im deutschen Görlitz bliebe.

Der Berliner Choreograf Christoph Winkler ist der Einladung der Tanztheater-Leiterin Gundula Peuthert gefolgt, für die zweite Ausgabe des deutsch-polnischen Choreographen-Projekts "Interface" ein kurzes Stück zu produzieren. Jeweils zwei deutsche und zwei polnische Choreografen hat Gundula Peuthert gebeten, in einem Raum außerhalb des Theaters - in diesem Fall der heruntergekommenen Halle einer ehemaligen Kofferfabrik - sowie zu einer bestimmten Musik zu choreografieren.

Keine einfachen Vorgaben für zeitgenössische Choreografen, die es in der Regel gewohnt sind, von der kleinsten Bewegung über die Musik bis zum Licht alles selbst entscheiden zu können, meint die künstlerische Leiterin. Dennoch hat sie sich für dieses Konzept entschieden:

"Weil es dann doch die Länder und Choreografen vergleichbar macht. Alle haben eine Ebene, auf der sie sich treffen müssen, und das ist in diesem Fall die Musik und die Auseinandersetzung mit dem Raum und das macht in sehr kurzer Zeit … eben, woran erkennt man Unterschiede und Gemeinsamkeiten? - das macht’s vergleichbar und das finde ich spannend."

Während Christoph Winkler mit dem Konzept bricht, die Musik nur ansatzweise einspielt und mit der Auseinandersetzung um das Leben in der deutsch-polnischen Grenzstadt die interessanteste Arbeit des Interface-Projekts schafft, versucht sich Joanna Czajkowska an einer poetischen Überhöhung des alten Konflikts zwischen Mann und Frau. Einem irdischen ist ein Engels-Paar an die Seite gestellt, das schweigend auf die zaghaften englisch-polnischen Verständigungsversuche reagiert und schließlich den Mann aus dem Weltlichen in eine höhere Sphäre entführt.

Wie viele ihrer polnischen Choreografen-Kollegen arbeitet auch Joanna Czajkowska mit narrativen Linien aus dem (in Polen gesellschaftlich stark verankerten) Sprechtheater, schafft eine poetische, manchmal fast naiv anmutende Bildsprache und benutzt gleichzeitig eine starke, virtuose Tanztechnik.

In den letzten Jahren hat sich die ohnehin schon weit gefächerte Tanzszene in Polen noch vergrößert; für Gundula Peuthert machen sich die unterschiedlichen internationalen Einflüsse auch dort bemerkbar.

"Die beiden polnischen Choreografen, die dieses Jahr arbeiten, sind so verschieden zu den beiden Choreografen im letzten Jahr, also wie in jedem Land, auch deutsche Choreografen unterscheiden sich ja extrem und das würde ich jetzt mal auch auf polnische Choreografen und aus aller Herren Länder übertragen. Ich denke, dass die Themen vielleicht unterschiedlich sein können, aber von der Handschrift her ist es vielfältig wie überall."

Diese Vielfalt möchten Gundula Peuthert und ihr Team mit dem TanzArtFestival nach Görlitz bringen. "Wer so selten weg kommt, muss sich die Kunst in die Stadt holen", sagt die Tanztheaterchefin und hat für die erste Ausgabe ihres Festivals kein spezielles Motto gewählt, sondern vor allem befreundete Künstler eingeladen und solche, deren Arbeiten sie besonders interessieren: die israelische Tänzerchoreografin Maya Lipsker zum Beispiel, das Gelegenheitstheater aus Polen oder die deutsch-israelisch-amerikanische Wee Dance Companie.

Der Berliner Choreograf Christoph Winkler präsentiert mit "meet and greet" eine Uraufführung, in der er zeitgenössischen Tanz und HipHop aufeinander treffen lässt und auf diese Weise humorvolle Einblicke in den Tänzeralltag gestattet. Alle Künstler kommen mit großem Engagement, erzählt Gerd Weise, verantwortlich für die Organisation:

"Finde ja die Strategie ganz schön, dass diese Kompanien von hier erzählen werden und vielleicht dass man dadurch dieses kleine Netzwerk sich entwickeln lässt und es vielleicht im Untergrund schlummern lässt dieses kleine Festival und sagt, ach, es ist sympathisch, hier spricht noch jeder mit jedem, dann hat man die Spannung dieser geteilten Stadt, es ist nicht überkandidelt und das vielleicht als reizvoll zu betrachten. (…) Es ist alles relativ problemlos, irgendetwas hier zu akquirieren, und das könnte das so eine spannende Sache sein, wo die Tänzer unter sich Zeit haben zu sprechen, zu gucken, was machen die anderen und in einer sehr lockeren Atmosphäre ein paar Tage verbringen."

Neben der Zeit sind es vor allem die ungewöhnlichen Räume, die in einer Stadt wie Görlitz auf Eroberung und Belebung durch ein Festival warten, wie etwa die Turnhalle eines Gymnasiums auf polnischer Seite oder der vergilbte Gewerbecharme der Galerie Exergon. Das wunderschön restaurierte, aber entvölkert wirkende Görlitz lässt Freiräume, von denen Künstler und Organisatoren andernorts nur träumen können.

"Wer hier etwas erleben will, muss es selber machen" - das ist das Motto der jungen Görlitzer Kulturschaffenden, das auch für die Initiierung dieses Tanzfestivals gelten kann. Und es ist genau diese engagierte Kreativität und der pionierhafte Gestaltungswille, dem man allen erdenklichen Erfolg wünscht und der nicht nur für Zuschauer und Kritiker, sondern auch für die Förderer offenbar so überzeugend wirkt.

Gerd Weise: "Da geht, glaube ich, die Kulturstiftung Sachsens einen sehr schönen Weg mit uns, um das zu fördern […], für die junge Szene, für junge Leute oder Junggebliebene, die vor allem an moderner Kunst, an zeitgenössischer Kunst interessiert sind und trotzdem diese Sprachbarrieren haben, für die ist eben Tanz das optimale. Und den Weg geht mit uns die Kulturstiftung. Ich hoffe, auch nächstes Jahr."