Traum vom Überleben

11.12.2012
335 Hütten, 3000 Menschen, etwa 2000 Quadratmeter Fläche - Annawadi ist ein kleiner Slum am Rande der indischen Metropole Mumbai, umgeben vom Internationalen Flughafen und großen Hotels. Die amerikanische Journalistin Katherine Boo dokumentiert das Leben seiner Bewohner in einem lebendigen und intimen Porträt.
Drei Jahre hat Katherine Boo die Slum-Bewohner täglich besucht, sie gefilmt und mit ihnen gesprochen. Unter anderem mit dem 17- oder 19-jährigen (er weiß es selbst nicht so genau) Abdul Husain, einem Müllsammler und -händler, seinen Eltern und Geschwistern, die in einen Streit mit der einbeinigen Nachbarin Fatima verstrickt sind, der mit dem Tod Fatimas endet, mit der knapp 40 Jahre alten Asha, die vom Land nach Mumbai zog und alles dafür tut, als erste Frau "Slumlord", eine Art Bürgermeisterin, zu werden, und ihrer Tochter Manju, die als erstes Mädchen im Slum einen Collegeabschluss anstrebt, sowie dem Tipp-Ex schnüffelndem Müllsammer Sunil und seinem Freund Sonu.

Sie alle haben - anders als der Titel vorgibt - keinen Traum von einem anderen Leben, sie versuchen nur ihren Alltag, ihr Dasein, zu bewältigen. Für Träume bleibt wenig Raum in einem Umfeld, in dem Menschenleben nicht viel zählen: Lapidar wird berichtet, wie ein zweijähriges Mädchen zufällig in einem Eimer Wasser ertrinkt - und dass dauernd kleine Mädchen unter dubiosen Umständen sterben, weil die Eltern sich einen Jungen gewünscht hatten und es im Slum aus Geldmangel keine pränatalen Ultraschalluntersuchungen gibt - dass die kindlichen Müllsammler darum wetten, wer von ihnen als nächstes an entzündeten Wunden krepiert, dass Jugendliche sich mit Rattengift umbringen, Autofahrer nicht immer ausweichen, wenn Müllsammler am Straßenrand rumstöbern, dass es zwar ein Krankenhaus in der Nähe gibt, Medizin oder einen Arzt aber nur für Extra-Honorar, und dass man bei Gerichtsverhandlungen - so lernt es Abduls Familie schmerzlich - seine Unschuld erkaufen muss.

Bestimmt wird das Leben im Slum von Kapitalismus, Korruption und Konkurrenz. Jeder muss sein Extra-Geschäft machen, um zu überleben. Das verroht, für Mitgefühl und Solidarität bleibt kein Platz: Die Jugendgang lässt die Slum-Bewohner nur gegen Bares Wasser am öffentlichen Brunnen zapfen, Polizisten nehmen die Müllsammler aus, diese bestehlen sich gegenseitig, die Nonnen des Kinderheimes verkaufen gespendete Lebensmittel, und Asha kann sich, als sie Slumlord ist, ein Leben mit Computer und roter Honda für den Sohn, bezahlt von unterschlagenen Regierungsgeldern für Schulen, leisten.

Katherine Boo ist eine überzeugende Dokumentation gelungen, ein Meisterwerk, auch weil sie sich als Reporterin gänzlich ausblendet und hinter die detaillierten, unsentimentalen, aber dennoch empathischen Beobachtungen zurücktritt. Sie wertet nicht, sie kommentiert nicht, sie macht keine wohlwollenden, gut gemeinten Vorschläge, hinter denen der Leser sich zustimmend verstecken kann. Sie lässt einfach die Bewohner Annawadis selbst sprechen. Und der Leser muss zuhören.

Besprochen von Günther Wessel

Katherine Boo: "Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben"
Aus dem Amerikanischen von Pieke Biermann
Droemer Verlag, München 2012
336 Seiten, 19,99 Euro
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