Trainspotting in Leipzig-Ost

Rezensiert von Kolja Mensing · 23.02.2006
Soviel beschädigtes Leben war lange nicht mehr in der deutschen Gegenwartsliteratur. Clemens Meyer erzählt in seinem Debütroman "Als wir träumten" von Crashkids, Speedfreaks und Hooligans, die nach der Wende in Reudnitz im Osten von Leipzig aufwachsen.
Natürlich hätte auch einfach das Bier an allem schuld sein können. Nicht das herbe Holsten, das gerade erst seinen Siegeszug im Osten angetreten hatte, sondern das gute alte Leipziger Premium Pils, das Daniel und seine Freunde direkt vom Hof der Brauerei besorgten: "Es war der Mittelpunkt unseres Lebens. Der Ursprung durchsoffener Nächte auf dem Vorstadtfriedhof, endloser Zerstörungsorgien und Tänze auf Autodächern."

Als Daniel dann begreift, dass es nicht allein um ein paar geklaute Kästen Bier und ein bisschen Spaß und Randale geht, sondern um eine "Art von Verlorenheit", ist es längst zu spät, um noch etwas zu ändern. Es dauert nicht lange, und dann wird Mark sich eine Überdosis in die Venen jagen und der kleine Walter einen seiner gestohlenen Wagen gegen die Wand fahren.

Clemens Meyers Debüt "Als wir träumten" ist ein Roman über eine Clique von Autoknackern, Hooligans und Drogensüchtigen, die 1989 gerade mal 14 oder 15 Jahre alt sind und von einem Tag auf den anderen ihre kleinen Vergehen wie das Schwänzen eines Pioniernachmittags gegen so klangvolle Delikte wie "Hausfriedensbruch", "schwere Körperverletzung" und "bewaffneten Überfall" eintauschen.

Dass es hier auch um die "Wende" und ihre Folgen geht, ist kaum zu übersehen, doch von der sanften Melancholie, mit der Jana Hensel und andere "Zonenkinder" den Verlust ihrer Heimat beschrieben haben, ist in diesem Roman nichts zu spüren. In Reudnitz im Osten von Leipzig sieht die Wirklichkeit anders aus: Rico will eigentlich Profiboxer werden, verbringt aber die meiste Zeit im Gefängnis, Fred ist stolz darauf, dass sein Vorstrafenregister mittlerweile so dick ist wie "Meyers A-Z", und während Paul die größte Sexhefte-Sammlung des Viertels zusammenträgt, schlägt Stefan, den alle nur Pitbull nennen, eines Nachmittags fast seinen Vater tot und macht dann in Drogen.

Soviel beschädigtes Leben war lange nicht mehr in der deutschen Gegenwartsliteratur. Im Gegensatz zu Großbritannien tauchen Crashkids, Speedfreaks und Neonazis hierzulande eben höchstens einmal in engagierten Jugendbüchern auf.

Dankenswerterweise interessiert sich Clemens Meyer, der 1977 in Halle geboren wurde und heute in Leipzig lebt, nun kein Stück für den literarischen Nachweis gesellschaftlicher Missstände, sondern vor allem für die irren Geschichten inmitten eines Alltags, der sich irgendwo zwischen dem dritten Bier bei "Ralf's Corner" und den weiß gekalkten Zellen der Jugendarrestanstalt abspielt – ein trostloser und selbstmörderischer Alltag, der trotz allem in manchen Momenten (und insbesondere nach einem Auswärtssieg von Chemie Leipzig!) so golden leuchten kann wie der Apfelkorn, den Daniel, Rico und die anderen in der Kaufhalle klauen.

Es passiert halt einfach nur so verdammt viel. Obwohl Daniel als Erzähler sich zu Beginn noch "einen Zipfel der Bettdecke zwischen die Zähne schiebt, um nicht von den wilden Zeiten zu erzählen", reiht sich dennoch schnell eine kaputte Erinnerung an die nächste. Zuletzt sind es dann mehr als 500 Seiten. Das ist natürlich viel zu viel, aber man sieht es Clemens Meyer gerne nach – vor allem deshalb, weil er so ein wahnsinnig präziser Erzähler ist.

Es gibt da zum Beispiel diese Stelle, an der Daniel nach drei Monaten Haft wieder nach Hause kommt und seine Mutter ihm mitten am Tag leicht angetrunken mit einem Glas Schnaps in der Hand die Tür öffnet. Immerhin: "Sie hatte ihren guten Bademantel an." Wer seine Adjektive so sicher platziert, darf auch 1000 Seiten schreiben.

Clemens Meyer: Als wir träumten
Fischer, Frankfurt am Main 2006.
528 Seiten, 18,90 Euro