Touristenboom auf Norderney

Früher "Ballermann", jetzt das "neue Sylt"?

Pferdekutsche am Strand auf Juist (Norderney).
Pferdekutsche vor Bettenburgen: Immer mehr Menschen zieht es nach Norderney. Wer länger nicht da war, erkennt die Insel manchmal kaum wieder. © dpa / picture-alliance / Hinrich Baesemann
Von Almuth Knigge · 09.10.2017
Alte Badehäuser erstrahlen in neuem Glanz, Strandbars servieren Milchreis. Norderney lockt mit einem entschleunigten Tourismus. In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der Touristen fast verdoppelt. Doch der Boom droht die Einheimischen zu verdrängen.
Bald bin ich wieder da. Auf Norderney, bei Tante Käthe. Nur noch ein paar Minuten. Von Deck aus sieht man erst den alten Wasserturm und dann schiebt sich nach und nach die Skyline der Insel ins Bild. Norderney ist die einzige der sieben Nordseeinseln, die so eine Skyline hat. An ihr sieht man auch sofort das Dilemma der 70er-Jahre, das das Eiland geprägt hat. Im Schatten von ein paar wenigen klotzigen Bettenburgen strengt sich die alte Bäderarchitektur an, nicht gänzlich unterzugehen. Der Investorendruck von einst prägt das Bild. Ein gewohntes Bild. Aber der Parkplatzwächter in Norddeich hatte mich vorgewarnt. Norderney habe sich verändert.
"Da tut sich jedes Jahr was. Das wird immer so von der Kundschaft gesagt, von unseren Kunden, die sagen Norderney wird auch immer schicker."
Syltifizierung – auf Norderney. Ich kann das gar nicht glauben. Meine Erinnerung an Norderney sind, neben wunderschönen Kindheitserinnerungen von Sommern am Strand und scheinbar grenzenloser Freiheit, die Bilder im Kopf von Rentnern in leberwurstfarbenen Windjacken und Rudeln von vergnügungssüchtigen Frauen und Männern, die ihre Kegelclubausflüge vornehmlich nach Norderney machten und viel Geld für Alkohol auf der Insel ließen. Das hat Norderney, das ehemals den Beinamen "Die Schöne" trug, das Image vom "Ballermann des Nordens" eingehandelt.
Und mehr und mehr verwitterte die alte Schönheit, die Heinrich Heine in den 1820er Jahren zu seinem Nordseezyklus inspirierte. Heine verbrachte drei Sommerurlaube wegen eines nervösen Kopfleidens auf der Nordseeninsel.
"Ich liebe das Meer wie meine Seele", fand er heraus, als er von der Marienhöhe hinausblickte auf den Sund, der Norderney von Juist trennt.

Alte Strandschönheit 2003 wachgeküsst

Vor allem die neuen Bäder an der Ostsee liefen Norderney den Rang ab. Die Veränderung kam mit der Jahrtausendwende. Da machte die Stadtgemeinde noch über drei Millionen Mark Verlust. Damals gehörte das Staatsbad noch dem Land Niedersachsen, erinnert sich der stellvertretende Kurdirektor Hans Rass. Rass war von Anfang an für den Neuanfang.
"2003 sind wir kommunalisiert worden."
Da stieß das Land Niedersachsen das defizitäre Staatsbad ab, überließ der Stadt Norderney alle Liegenschaften für einen Euro und vergoldete den Insulanern die künftige Eigenständigkeit noch mit ein paar Fördergeldern – als Startkapital sozusagen. Und Norderney startete durch, erklärt Hans Rass.
"Wir haben ja hier 'ne eigene Bierbrauerei, das sind ja alles so Sachen, die in den letzten Jahren entstanden sind. Wir haben eben auf Qualitätsoffensive gesetzt und haben viele mitnehmen können."
Aber – seit es Touristen gibt, gibt es auch Kritik daran. Als zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit Norderney das erste Nordseeheilbad entstand, da hatten die Fischer und Piraten noch Steine aufs Kurhaus geworfen - bis sie lernten, dass man mit dem Vermieten weiterkommt. Aber dass das Vermieten allein – also das zur Verfügung stellen von Schlafplätzen – eben nicht alles sein kann, das hat die Entwicklung der Insel gezeigt, erklärt Hans Rass.
"Durch die Gesundheitsreform ist natürlich die Verschreibungen, das ist alles weggebrochen, das Kurmittelhaus war ausgelegt für die damalige Zeit, da gab es ja Tagegelder bis zum Abwinken, und dadurch defizitär und Leerstand in zwei Etagen und da haben wir gesagt, da fangen wir mal mit an und daraus ist das Badehaus entstanden."

Wohlfühl-Tempel der Superlative

Das Badehaus ist Mittel- und Ausgangspunkt des neuen Norderney. Thalasso-Tempel der Superlative. Feinster Naturstein soll das Gefühl von Sand unter den Füßen wecken, Meerwasser in allen Variationen den Körper erquicken. So wie in den Anfängen des Bädertourismus – nur eben viel edler und viel mehr. Hans Rass ist stolz auf das Erreichte.
"Bei der Eröffnung haben wir alle zusammen bis morgens um drei geputzt und hatten den Ministerpräsidenten da und hatten das Warschauer Sinfonieorchester im Becken spielen lassen. Das war schon 'ne Hammer-Sache."
Norderneys Wechsel auf die Zukunft – 2020 will soll die Insel Europas Thalasso-Destination Nr. 1 sein. Das haben sich die vorgenommen, die das Sagen auf der Insel haben.
Der Wandel auf der Insel trägt die Handschrift der Familie Brune, genauer gesagt, die der Brüder Marc und Jens Brune. Der eine ist Architekt und Bäderspezialist, der andere Gastronom. Die beiden Brüder betreiben drei Hotels und zwei Cafés auf der Insel. Ein Fünf-Sterne Haus ist geplant. Auch dem ältesten Gebäude der Insel, früher Kurhaus, jetzt Conversationshaus genannt, hauchten die Brunes wieder Leben ein.

Nicht Allen gefällt der Wandel

Die lichtdurchflutete Lobby ist voller Gäste. Links im Bistro sitzen sie vor Kaffee und Kuchen und im Kaminraum versinken sie in schweren Ledersesseln, ein Buch in der Hand oder auf dem Bauch. Vor dem Conversationshaus sitzen ein Mann und eine Frau aus Hannover in der Herbstsonne bei einem Pharisäer–Kaffee mit Sahne und Rum. Die Frau erinnert sich an frühere Besuche.
"Wir waren vor 25 Jahren das erste Mal hier, jetzt das zweite Mal. Und ich muss gestehen, ich kann mich an nichts mehr erinnern, es hat sich so viel verändert, es ist unglaublich."
Unglaublich – gut? Die Frau verneint.
"Ich hatte es eigentlich damals positiver in Erinnerung."
Der Mann an ihrer Seite nickt. "Syltfizierung", sagt er.
"Wenn man hier diese Rundfahrt mit der Bahn macht, dann wird gesagt, dass die also in Richtung Sylt gehen wollen, und schon fast da angelangt sind. Das hat mich erschrocken, also die wollen die Schönen und die Reichen haben, das hat der gesagt."
Auch Jens Brune gefällt nicht, dass sie immer wieder mit diesem entfremdeten Luxus in Verbindung gebracht werden.
"Man will uns immer da oben hineinschieben. Aber das bin ich nicht."

Meeresblick statt Fernsehen?

Brune will Insulaner sein, will seine Idee vom Ineinander von Natur und touristischer Infrastruktur verwirklichen. Einen Garten Eden schaffen, seine Gäste viel mehr und viel direkter mit der Naturgewalt konfrontieren. Eigentlich wollte man in den Brune Hotels auch auf den Fernseher verzichten, weil ja der Hauptdarsteller, das Meer, immer direkt vor dem Fenster tobt. Das ging den Gästen aber wohl doch zu weit, sagt Brune.
"Was ich vermisse, dass man noch mehr aus seiner Komfortzone herausgeholt wird."
Gerne wird die Geschichte kolportiert, wie die beiden Brüder sich nach ihren Lehr- und Wanderjahren im Ausland auf der Dachterrasse des großelterlichen Hotels trafen, in Kindheitserinnerungen schwelgten und überlegten, was sie nun anfangen sollten mit ihrem zukünftigen Arbeitsleben. Und Norderney hatte, das verriet der Blick vom Dach, positiv ausgedrückt, enorm viel Potential. Potential für die Ideen der Brunes.
"Also, wir persönlich verwenden gar nicht den Begriff Luxus. Die Natur ist unser Luxus. Das trifft es eigentlich viel stärker."
"Back to the roots" ist das Motto. Immer frischer Milchreis, eine eigene Bäckerei – für die mit den leberwurstfarbenen Windjacken genauso wie für den Dax-Vorstand oder den Hipster aus der Hauptstadt, die neuerdings auch gerne auf Norderney entschleunigen – weil ihnen Sylt zu rummelig ist. Jens Brune will verschiedene Menschen nach Norderney locken.
"Die Stärke von Norderney ist ja gerade die Vermischung von unterschiedlichen Gästegruppen. Und das ist das Wahrnehmen der Natur und deswegen sind das auch Menschen, die auch Rückzugsorte suchen."

Die Milchbar am Weststrand ist ein besonders beliebter Rückzugsort. Spektakulär ist der Sonnenuntergang, den man hier erleben kann. Legendär der Milchreis, der serviert wird. Oma-Qualität soll er haben. Und "hygge" sein – der neue Trend aus Skandinavien für Gemütlichkeit. Doch auch hier, ein Hauch von Sylt, findet eine Familie, die schon seit Ewigkeiten nach Norderney kommt. Die Veränderung ist aufgefallen
"Das ist schon so ein Inselstil, so ein bisschen maritim, aber ich finde, es ist davon schon wieder zu viel."
Naturmaterialien, gedeckte Farben, kein Schnickschnack. Ein bisschen Japan, ein bisschen Amerika dazu, das ist der Brune-Stil. Den in Windeseile ein Großteil der Hoteliers kopierte und neue Zielgruppen auf die Insel holten, die wiederum Investoren lockten, die allein das große Geld wittern. Das hat Folgen.
Die Milchbar mit Meeresblick in Norderney serviert hausgemachten Milchreis.
Die Milchbar mit Meeresblick in Norderney serviert hausgemachten Milchreis. © Almuth Knigge / deutschlandradio

Die Einheimischen finden keinen Platz mehr

Der Immobilienmarkt ist überhitzt, die Preisexplosion in allen Bereichen hat verheerende Folgen für die Sozialstruktur der Insel. Zuletzt zählte man 530.000 Gäste und 3,6 Millionen Übernachtungen. Auch die Hunde werden immer mehr. Und die Fahrräder. Nur die Einheimischen, die finden keinen Platz mehr.
Das Einzige, was sich in den zehn Jahren meiner Abwesenheit auf der Insel nicht geändert hat, ist die Gastfreundschaft von Tante Käthe. Auch Jens Brune kennt meine Tanze Käthe.
"Käthe ist meine Nachbarin und die ist ja sowas von herzlich!"
Tante Käthe könnte so etwas wie ein "role model" für Brunes Idee von Gemütlichkeit und Gastfreundschaft sein. Jens Rune kommt geradezu ins Schwärmen.
"Also wenn sie bei Tante Knigge einen Tee bekommen und man sitzt an diesem warmen Ofen. Das ist ja dieses Schöne: Rauheit und Herzlichkeit. Auch da haben wir zwei Kontraste und nur in der Wahrnehmung der Kontraste werden wir berührt."
Und genau das kann man nicht verkaufen. Das muss von Herzen kommen. Und sollte immer kostenlos sein. Genau wie die Natur. Das soll so bleiben. Aber der Grat zwischen Authentizität und Kaputtsanierung ist schmal. Tante Käthe weiß, warum die Leute so gerne zu ihr kommen.
"Da fehlt die Menschlichkeit. Wenn bei uns die Leute reinkommen, dann sagen sie, das ist ja wie nach Hause kommen."
(mw)
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