Marie Vieux-Chauvet: "Töchter Haitis"

Nirgendwo ist Sicherheit      

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Die Cover-Illustration von Marie Vieux-Chauvets Roman "Töchter Haitis" zeigt das Gesicht einer schwarzen Frau mit Hochsteckfrisur und ein buntes Pflanzenornament.
© Manesse Verlag

Marie Vieux-Chauvet

Aus dem Französischen von Nathalie Lenmmens

"Töchter Haitis"Manesse, München 2022

282 Seiten

22,00 Euro

Von Marko Martin · 22.11.2022
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Marie Vieux-Chauvet erzählt in ihrem Roman von einer jungen Frau in Haiti, die sich von Ausgrenzung und Hass nicht entmutigen lässt und sich stattdessen in der Opposition politisch engagiert. Das gelingt ihr eindrucksvoll.
“My home is my castle“ – Tatsache oder Wunschvorstellung? In fragilen Gesellschaften  und Diktaturen war und ist jedenfalls keineswegs garantiert, dass das private Domizil tatsächlich das sein kann, was man heute einen „safe space“ nennt.
Im Extremfall der bitterarmen karibischen Inselrepublik Haiti – nach der Niederlage der französischen Kolonialisten 1804 formell unabhängig geworden und doch bis heute ein Krisenherd geblieben – gehört diese Unsicherheit quasi zur Alltagserfahrung.
Leser von Graham Greenes legendärem Roman „Die Stunde der Komödianten“ (oder Zuschauer der nicht minder berühmten Verfilmung mit Richard Burton und Liz Taylor) werden sich gewiss noch an die bedrückenden Szenen erinnern: Selbst das gediegene Hotel Oloffson war nicht sicher vor den Tonton Macoutes, den Schergen der Diktatur von Francois Duvalier alias „Papa Doc“.

„Angstrepublik Haiti“

Als dieser 1957 an die Macht kam, wurde es auch für die 1916 in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince geborene Schriftstellerin Marie Vieux-Chauvet immer gefährlicher; ein paar Jahre später verließ sie die Insel in Richtung New York.
Kritische Autoren waren im notorisch instabilen Haiti, geprägt vom Zwist zwischen schwarzer Bevölkerungsmehrheit und der sogenannten „Mulatten-Elite“, seit jeher bedroht: So war 1961 bereits Jacques Stephen Alexis ermordet worden, Autor emblematischer Romane über die „Angstrepublik Haiti“.

Um diese Hintergründe sollte man wissen, um Marie Vieux-Chauvets bereits 1954 erschienenen Roman „Töchter Haitis“ in seiner gesamten Relevanz und literarischen Wucht angemessen zu würdigen.
Die nun vorliegende deutsche Übersetzung von Nathalie Lemmens hilft ebenfalls dabei, macht sie doch den Wechsel zwischen klassischem und kreolischem Französisch in den Beschreibungen und Dialogen sinnfällig, belässt manches der Atmosphäre willen im Original, setzt es kursiv, erläutert es kurz und prägnant im Anmerkungsteil. Tatsächlich: Eine Art Einheit von Stil und Geschichte, deren Protagonistin jedoch innerlich ebenso zerrissen ist wie ihr Land.

Als Frau zum Opfer gemacht    

Die junge Lotus ist die Tochter eines Franzosen, der sich irgendwann verabsentiert hatte, und einer Einheimischen, die bis zu ihrem frühen Tod Prostituierte gewesen war. Nun lebt die „hellhäutige“ junge Frau in einer zunehmend heruntergekommenen Villa am Rande eines Elendsviertels, von deren Bewohnern sie gleichwohl als „Privilegierte“ geschmäht wird.
Vom herrischen Hausmädchen tyrannisiert, von den Männern des Viertels als Prostituierten-Tochter permanent bedrängt (und schließlich auch vergewaltigt) und von den vermeintlich „besseren Kreisen“ der Hauptstadt hochmütig geschnitten, macht jene Lotus eine geradezu universelle Erfahrung: Ausgrenzung und Hass können unzählige Varianten annehmen, und wer sie allein mit der Hautfarbe, dem Geschlecht, dem sozialen Status oder der politische Gesinnung zu erklären sucht, hat nur wenig verstanden.

Männliche Machtspiele  

Es kommt dem Roman zugute, dass die Icherzählerin trotz ihrer physischen Wehrlosigkeit eine genaue Beobachterin ist, deren Sensoren stets auf Empfang gestellt sind – auch gegenüber jenen, die doch „die Guten“ sind, eigentlich.
Als sie nämlich mit dem aufstrebenden Jung-Oppositionellen Georges endlich einen Mann trifft, der ihr nicht nur Schutz und Geborgenheit bietet, sondern auch ein liebevoller Kamerad ist, kommt das Gefühl der Entfremdung und Nicht-Zugehörigkeit, das sie seit Kindheitstagen begleitet, keineswegs zur Ruhe, da ihr Haus nun zum Stützpunkt der Opposition wird, die dafür kämpft – die Geschichte spielt in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg – den gegenwärtigen korrupten Präsidenten durch einen anderen, vermeintlich besseren zu ersetzen.
Dem ausbeuterischen „Mulatten“-Staatschef folgt schließlich zwar einer aus der schwarzen Bevölkerungsmehrheit, der sich dann im Amt aber gleichfalls lediglich um die eigenen Pfründe schert. Was die Männer im Haus in Erstaunen versetzt – Lotus kann es nicht verwundern. Dabei hat sie keine Ideologie zur Hand, sondern vor allem ihre Alltagserfahrungen als Marktfrau und Lehrerin, die an der Ignoranz ihrer Umwelt vorerst scheitert.

Trügerische Hoffnung

Als sie nach der Ermordung ihres geliebten Partners ihre kleine Villa dann dennoch in eine Kinderkrippe und Schule für Frauen und Kinder umwandelt und schließlich von einem (wiederum neuen) Präsidenten sogar ein Abzeichen verliehen bekommt, scheint jedoch sogar eine Art Hoffnung auf.
Trügerisch, wie es die inzwischen rasant gealterte Roman-Protagonistin ebenso ahnt wie ihre Schöpferin. Marie Vieux-Chauvet starb 1973 im nordamerikanischen Exil, fern von Haiti. In den Romanen jüngerer Autoren wie Kettly Mars, Emmelie Prophéte oder Edwidge Danticat aber lebt die Widerstandsfähigkeit jener klugen und tapferen Lotus fort. Wie gut, dass die „Töchter Haitis“ nun auch hierzulande kennenzulernen sind.
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