Tinder & Co

Wie verkauft sich das Selbst?

Eine junge Frau schaut auf ihr Smartphone.
Verführen Tinder & Co zu einem oberflächlichen Umgang mit Liebe und Sexualität? Das behaupten zumindest Kulturpessimisten. © Unsplash / Daria Nepriakhina
Von Sarah Berger · 02.01.2018
Sex versus Liebe, Selbstdarstellung versus wahre Gefühle – Tinder polarisiert. Manche behaupten gar, die App habe eine ganze Generation beziehungsunfähig gemacht. Schade, dass die Kritik an der angeblich so oberflächlichen App selbst so oberflächlich ist, findet Sarah Berger.
Onlinedating ist in den wenigen Jahren der digitalen Revolution von der Mega-Creep-Veranstaltung zum schnellen Lieferservice für Sex avanciert – so die mediale Berichterstattung. Es wurden zahlreiche Artikel geschrieben, Einspieler produziert, Diskussionsrunden geführt, die das Für und Wider dieser Veräußerung des Selbst unter kapitalistischen Prinzipien ausleuchten.
Nicht selten ist die Sprache von der "Sexapp", fällt das Gespräch auf Tinder – ein Kichern geht durch die Runde, alle Anwesenden schauen verschämt auf den Boden. Niemand will so richtig zugeben, die App zu nutzen – ähnlich peinlich wie das Kaufen von Kondomen?
Über eine Millionen Menschen sind im deutschsprachigen Raum bei der App angemeldet und verwenden sie regelmäßig. Und wären sich alle dieser Nutzer einig darüber, dass dieses "Tinder" ausschließlich dem Zugang zu schnellem, unverbindlichen Sex dienlich ist, gäbe es keinen Gesprächsstoff.

Findet man die wahre Liebe nur im Supermarkt?

Über Swinger-Webseiten gibt es zumindest nur wenig Berichterstattung und Auseinandersetzung darüber, ob diese Art von Austausch und Begegnung nun die Ursache der Generation Bindungsunfähig sei oder ob sie ein Bedürfnis befriedige, welches seit eh und je dem Menschen inne ist. Die Frage also: Was war zuerst da, das Huhn oder das Ei.
Ein Stöhnen geht durch das Gehirn: Argh! Schon wieder ein Beitrag über Tinder und Onlinedating. Ist das Thema nicht längst durch? Sind wir uns nicht alle darüber einig, dass das Kennenlernen im Internet dem schnellen Sex dienlich ist und echte Liebe nur im Supermarkt passiert, beim zufälligen Sich-gegenseitig-Anrempeln?
Eine Frage hätte ich dann aber doch noch: Wie schafft es eine verhältnismäßig junge und in Umgang und Auswirkungen bisher kaum erforschte App, so nachhaltig zu polarisieren?
Entweder dafür sein und die damit einhergehende innere Leere, das Verkaufen seiner selbst mitnehmen oder mit aller kulturpessimistischer Kraft dagegen sein, denn eigentlich nutzt ja sowieso niemandem diese App zum Finden einer ernsthaften Partnerschaft.

Jede App ist nur so gut wie ihre User

Verhält es sich nicht viel mehr so, dass eine Social-Media-App immer nur so gut ist wie ihre Nutzer? Dafür steht zumindest das "sozial" in den sozialen Medien. Zwar sind die Nutzer dem Design und der je spezifischen Funktion ausgeliefert, dennoch gestalten sie den Umgang selbst. Entscheiden also welche Bilder sie hochladen, welche Texte sie veröffentlichen, mit welchen Usern sie interagieren.
Geht es vielleicht bei den Vorurteilen gar um das Bedürfnis selbst? Wünschen wir uns eine Sexapp? Also auch ein unkomplizierteres, unverkrampfteres Verhältnis dazu?
Kein gezwungenes Wegschauen beim Kauf der Kondome? Kein Peinlich-berührt-Sein, wenn das Gespräch mal wieder auf Tinder fällt? Wird über ein Bedürfnis geredet, dessen Ausleben ausbleibt? Fell in Love oder über Liebe fallen?

Wir streiten über Konzepte von "Liebe"

An Tinder crashen gleich mehrere Lebens- beziehungsweise Daseinsentwürfe und, freundlich gesagt, "Liebeskonzepte" in-, auf- und gegeneinander. Die freie Liebe gegen das heteronormativ-geschlossene Beziehungsmodell, die schnelle Zwanglosigkeit gegen die Beziehungsarbeit, das Schnelllebige gegen das Langwierige, das Oberflächliche gegen das Tiefe, das Bedingungslose gegen das Sich-verkaufen …
Die App steht exemplarisch für die emotionale Entleerung des Menschen, das Embodyment auf Grundlage von digitaler Kommunikation, das Sich-verlieren zwischen Nullen und Einsen. Im digitalen Raum ist mehr möglich als im realen, solange nur die Couch nicht verlassen wird – zum Glück gibt es Netflix. Warum also überhaupt noch Sich-öffnen, wenn schon gar nicht mehr die Haustür geöffnet wird?
Der sogenannte Kulturpessimismus, bevor die kulturelle Gegenwart überhaupt greifbar ist – oder anders: bevor wir sie be-griffen haben. Kultur (auch die der Beziehungen) ist nicht zwangsläufig etwas, dem wir hinterher rennen müssen, nein, theoretisch könnten wir sie auch aktiv gestalten, statt uns in Berghüttenromantiken zu verlieren und die gute alte Zeit zu ersehnen. Sich also vielleicht doch mal Tinder runterladen, bevor der nächste entnervte Feldversuch-Artikel darüber geschrieben wird.

Der Narzissmus im Kreuzverhör

Wenn die App eines vermag, dann unseren Narzissmus ins Kreuzverhör nehmen. Sie animiert in gleicher Weise zur Selbstdarstellung wie zur kritischen Auseinandersetzung mit der Selbstvermarktung: Honoriert wird nicht das faktische Erscheinungsbild in Kombination mit Eigenschaften und Aura, sondern die Fähigkeit, all diese Komponenten, die die Persönlichkeit ausmachen, oder zumindest den Teil der Persönlichkeit, der offenbart werden soll, in Szene zu setzen – die bereits erwähnte Veräußerung des Selbst unter kapitalistischen Bedingungen oder um es einfacher zu sagen: das Vermögen, sich gut zu verkaufen.
Aber was wird da eigentlich ge- und verkauft? Was ist die Ware, der Tauschwert und was die Bezahlung? Wie verkauft sich das Selbst? Die einzelnen Komponenten scheinen sich gleich zu sein: Jeder bezahlt mit seiner Zeit und Aufmerksamkeit und bekommt die Zeit und Aufmerksamkeit des Anderen. Von einem echten Verkauf kann also nicht die Rede sein.

Warum ist die Diskussion eigentlich oberflächlich?

Ein wohlwollender Blick auf die Selbstvermarktung wäre, dass die Tatsache, dass bestimmte soziale Medien zur Präsentation des Selbst auffordern, auch mit sich bringt, dass erst einmal lokalisiert werden muss, wer wir sein wollen – also welchen Teil unserer selbst wir überhaupt zur Darstellung bringen wollen. Insofern könnte diese Veräußerung des Selbst positiv gewendet, als eine Verinnerlichung gelesen werden – als eine Art Zu-sich-kommen.
Schade eigentlich, dass wir so oberflächlich damit umgehen und auf der Metaebene genau diese Bewegung vollziehen, die beim Umgang mit der App so gerne kritisiert wird.

Sarah Berger, geb. 1985, studierte Philosophie an der Universität Heidelberg und lebt seit 2012 in Berlin. Sie schreibt Essays, Hörstücke und literarische Prosa und gewann 2016 den Wiener Werkstattpreis für Kurzprosa. 2017 erschien ihr Buch "Match Deleted Tinder Shorts" im Frohmann Verlag.

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