Tilman Rammstedt: "Morgen mehr"

Vom Schreibexperiment zum cleveren Roman

Ein Porträt des Berliner Autors Tilman Rammstedt
Der Berliner Autor Tilman Rammstedt © picture-alliance/ dpa / Sebastian Kahnert
Von Jörg Magenau · 27.07.2016
"Morgen mehr" von Tilman Rammstedt war als Fortsetzungsroman im Internet gestartet, jetzt erscheint es auch als Buch. "Genial", urteilt unser Rezensent Jörg Magenau - und mag kaum glauben, dass der Autor unvorbereitet in sein Schreibexperiment gestolpert ist.
Vom 11. Januar bis zum 9. April 2016 schrieb Tilman Rammstedt. Fast jeden Tag lieferte er ein neues Kapitel der Netz-Öffentlichkeit aus. Ein echter Fortsetzungsroman also, der – auf veränderter technologischer Basis – so entstand, wie die Zeitungsromane von Charles Dickens im 19. Jahrhundert. "Morgen mehr" hieß dieses Exerzitium, und so heißt nun auch das Buch, auch wenn der Titel weniger auf den Inhalt passt, als auf die Entstehungsbedingungen. Denn im Roman gibt es kein Morgen.

Überschriften als absurde Inhaltsangaben

Da gibt es nur den heutigen Tag, 24 Stunden und – zum Glück für alle Beteiligten – eine Schaltsekunde, wie es sie im Jahr 1972, zur Zeit der Handlung, tatsächlich gab. Die kurzen Tagesrationskapitel sind geblieben. Mit ihren Überschriften als absurde Inhaltsangaben erinnern sie an Cervantes "Don Quijote" oder an den Simplicissimus, und tatsächlich ist auch "Morgen mehr" ein Schelmenroman.
Der Ich-Erzähler kennt zwar schon sein ganzes zukünftiges Leben, hat aber ein fundamentales Problem: Er ist noch nicht geboren. Er ist der über allen Wassern schwebende Geist eines möglichen, sich selbst erhoffenden Lebens.

Der Held hat nur einen Tag Zeit

Er muss aber erst einmal dafür sorgen, dass seine Eltern sich treffen, und dafür hat er – aus biologischen Gründen begreiflich – nur diesen einen Tag Zeit. (Laurence Sternes "Tristram Shandy" lässt grüßen, der ja auch mit der eigenen Zeugung begann.)
Die Ausgangslage ist aber denkbar ungünstig: Die Mutter liegt in Marseille mit einem melancholischen Franzosen im Bett, der nicht der richtige Vater wäre. Der Vater wird dagegen soeben mit einbetonierten Füßen in den Main geworfen. Man kann also nicht behaupten, dass Tilman Rammstedt es sich leicht gemacht hätte.
Allerdings kann man, wenn man dann das Ende kennt, kaum noch glauben, dass er so ganz unvorbereitet in sein öffentliches Schreibexperiment gestolpert ist. Denn da werden von der ersten Szene an unmerklich die Fäden ausgelegt, die Möglichkeiten in all ihrer Unwahrscheinlichkeit so vorbereitet, dass sie sich erfüllen können.

Nichts geschieht zufällig

Nichts geschieht zufällig, und jedes erzählerische Rädchen greift präzise ins nächste. "Morgen mehr" ist trickreich ausgetüftelt, witzig, temporeich, intelligent und wirklich ein total abgefahrenes Buch. Abgefahren im Wortsinn, denn ein Road-Movie ist das Ganze auch. Da fahren gleich mehrere Personen auf Paris und den Eifelturm zu, wo dann, nach kleineren Crashs unterwegs, der große Showdown stattfindet.
Eiffelturm in Paris
Eiffelturm in Paris: Ort des Showdowns in Rammstedts Geschichte© imago stock&people
Außer Vater und Mutter sind das: ein Mann aus Hanau, der gerne Frankfurter Unterweltkönig wäre und sich deshalb Dimitri nennt. Drei Männer im Pelz, die einem Koffer hinterherjagen. Ihr Chef, der ihnen folgt. Claudia, die Ex-Geliebte des Vaters und ihr frisch angetrauter Ehemann. Und schließlich ein zwölfjähriger Junge, der plötzlich auf der Rückbank sitzt, ein Notizbuch vollschreibt, seltsame Fragen stellt und zum eigentlichen, liebenswerten Helden der rasanten Geschichte wird.

Das Unmögliche muss möglich werden

Dass die Zeit dabei eine entscheidende Rolle spielt, ist klar. Dass es erzählerisch drunter und drüber geht, wenn das Unmögliche möglich werden soll, ebenfalls. Nebenbei lotet Rammstedt die Möglichkeiten des Erfindens aus und die Bedingungen, unter denen Literatur entsteht. Erst mal den Ich-Erzähler erschaffen! Ziemlich genial.

Tilman Rammstedt: "Morgen mehr"
Hanser Verlag, München 2016
224 Seiten, 20 Euro

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