Tibet-Experte wirft Regierung Untätigkeit vor

Moderation: Christopher Ricke · 18.03.2008
Der Asienreferent der Gesellschaft für bedrohte Völker, Ulrich Delius, hat der Bundesregierung und anderen Regierungen jahrelange Untätigkeit in der Tibet-Frage vorgeworfen. Zahlreiche Resolutionen zu Tibet seien mit Rücksicht auf die chinesischen Machthaber nie umgesetzt worden. Der Westen müsse seinen Einfluss endlich nutzen, um eine friedliche Lösung des Konflikts zu erreichen.
Christopher Ricke: Das Ultimatum ist abgelaufen. Das Ultimatum, das China den Demonstranten in Tibet gestellt hat. Nur wer sich bis Mitternacht ergebe, könne mit milder Behandlung rechnen, sagte der von Peking eingesetzte Gouverneur, und dann rief er zum Verrat auf. Wer zudem Informationen über Rädelsführer und anderer Beteiligter an dem Aufstand preisgebe, könne mit noch mehr Milde rechnen. Mitternacht ist in Tibet lang vorbei. Dort ist jetzt Mittag, und die Menschen fürchten eine Offensive des chinesischen Militärs. Ulrich Delius ist der Asienreferent der Gesellschaft für bedrohte Völker. Guten Morgen, Herr Delius!

Ulrich Delius: Schönen guten Morgen!

Ricke: Ich hab mal ins Archiv geguckt, Tibetresolutionen aus dem Raum der Vereinten Nationen, vom Europaparlament, vom Bundestag, der USA usw. usf. Bei einem Dutzend in den letzen 50 Jahren habe ich aufgehört zu zählen. Seit Jahren, seit Jahrzehnten kommt das Thema immer wieder. Warum versagt denn die Weltgemeinschaft so?

Delius: Nun, es gibt eine große Kluft zwischen den Parlamenten, die durchaus sehr detaillierte und auch ambitionierte Empfehlungen abgeben und im Handeln der Staaten. Die Regierungen handeln anders als ihre Parlamente empfehlen. Auch zum Beispiel hier in Deutschland sind die Tibetresolutionen, die im Bundestag verabschiedet worden sind, vor allem die von 1996, die die wichtigste war, nie umgesetzt worden aus Rücksicht auf China, weil eben niemand es sich letztlich in der Politik mit den chinesischen Machthaber verderben will.

Ricke: Das ist ja die Frage, was tun. Man kann China natürlich nicht militärisch zwingen, und auch wirtschaftlich ist das Land viel zu stark.

Delius: Ja, aber man hätte seinen Einfluss nutzen können, um China deutlich zu machen, wenn ihr ein stabiles Land wollt, und das will ja insgesamt die Welt, weil es eben auch weiter Handel mit China treiben will, dann braucht es eben auch eine Lösung dieser Tibetfrage, sowohl wie der Frage anderer Nationalitäten, vor allen Dingen im benachbarten Xinjiang, wo es auch eine sehr schwierige Situation gibt. Wenn es keine Lösungen gibt, keine friedliche Lösung gibt, dann läuft alles eben darauf hinaus, dass es auf kurz oder lang eine Eskalation der Gewalt gibt, wie wir sie jetzt beobachten.

Vor allen Dingen, wenn der Einfluss des Dalai Lama immer weiter schwinden wird, oder der Dalai Lama verstirbt in den nächsten Jahren, dann wird es besonders problematisch, weil dann gibt es keinen mehr, der moderieren kann, der ein bisschen diese Jugendlichen auch mäßigen kann in Tibet, die eben inzwischen sagen, ihnen ist die Verhandlungsstrategie des Dalai Lama viel zu moderat, viel zu gemäßigt.

Ricke: Wir erleben den Dalai Lama in Europa ja als einen sehr friedlichen Menschen, der immer zur Versöhnung zum Dialog aufruft. Die chinesische Führung erlebt den Dalai Lama ganz anders. Die sprechen von der "Dalai Lama Clique", die die Unruhen angezettelt habe. Welche Erfahrungen haben Sie denn mit Personen und Missionen des Dalai Lama gemacht?

Delius: Ich denke, selbst diejenigen, die China sehr nahe stehen, würden den Dalai Lama nie als Kriegshetzer, die nie als gewaltbereiten Propagandisten bezeichnen, sondern immer wieder betonen, es ist ein extrem friedensliebender Mensch. So habe ich ihn auch immer wieder in vielen Gesprächen erlebt.

Das Problem ist eigentlich ein anderes. Es geht hier weniger um den Dalai Lama, sondern es geht um den absoluten Herrschaftsanspruch Chinas über Tibet. Man versucht es mit allen Mitteln durchzusetzen, angefangen davon, dass man in den 90er Jahren das alte Tibet, die alte tibetische Hauptstadt Lhasa weitestgehend abgerissen hat, um große, schöne, breite, chinesisch konzipierte Straßen anzulegen, die mit Sicherheitskameras überwacht werden. Jeder Schritt im Prinzip von den meisten Bewohnern Lhasas ist mit Sicherheitskameras überwacht, um eben sofort intervenieren zu können, wenn es zu Protesten kommt. Und das ist das Gefühl vieler Tibeter, die in Tibet heute noch leben. Die sagen, wir sind im Prinzip hier so minutiös überwacht, wir können uns nicht äußern. Die wenigen, die es tun, sind meistens nur Mönche und Nonnen, die sagen, wir haben nichts zu verlieren.

Ricke: Das Thema Tibet steht auf der politischen Tagesordnung seit Jahrzehnten. Es ist ein absolut ungelöstes Thema. Und der Protest der Tibeter jetzt, zu dieser Zeit, ist vielleicht nicht ganz unabsichtlich vor die Olympischen Spiele gesetzt und so vehement, weil man weiß, dass man viel Aufmerksamkeit erzielen kann. Ist im Umkehrschluss zu befürchten, dass das Thema, das jetzt viele Menschen berührt, in ein paar Wochen wieder vergessen ist?

Delius: Nun, es wird schwierig sein, dieses Thema zu vergessen. Es wird natürlich weniger Aufmerksamkeit finden, wenn die Olympiade vorbei ist, aber es wird ein Dauerthema bleiben. Wenn wir uns anschauen, was in den letzten mehr als 50 Jahren chinesischer Herrschaft über Tibet passiert ist, dann stellen wir fest, dass zyklisch immer wieder solche Proteste gekommen sind. Und 1987, 1989, als die letzten waren, hat es auch einen großen Aufschrei der Welt gegeben, nur leider hat keiner die Konsequenz daraus gezogen. Damals, ich entsinne mich noch gut daran, weil das die Zeit war, als ich begann, für Tibet zu arbeiten als Menschenrechtler, damals hatte Bundeskanzler Helmut Kohl noch wenige Wochen zuvor den Mönchen in Lhasa die Hand geschüttelt, und dann haben wir ihn damit konfrontiert, na ja, Herr Bundeskanzler, jetzt sind die Mönche, denen sie die Hand geschüttelt haben, nachweislich im Gefängnis. Was tun Sie denn für die? Nichts hat er getan. Und so ist es eben im Prinzip eine langwährende Geschichte der Untätigkeit auch westlicher Regierungen.

Ich denke, das Thema Tibet wird uns sicherlich noch länger beschäftigen, weil die Menschen einfach aufbegehren, weil sie Freiheit wollen, weil sie Menschenrechte wollen. Das heißt nicht unbedingt, dass sie alle einen unabhängigen Staat wollen. Aber sie wollen das, was China ihnen auf dem Papier versprochen hat, eine echte Autonomie, das wollen sie wenigstens irgendwann mal sehen. Und nicht, dass ihre tibetischen Schulen geschlossen werden, ihre Kultur unterdrückt wird und ihre Religion sie nicht praktizieren dürfen.

Ricke: Ulrich Delius, er ist der Asienreferent der Gesellschaft für bedrohte Völker. Vielen Dank, Herr Delius!