Thomas Dieterich: "Ein Richterleben im Arbeits- und Verfassungsrecht"

Die unbekannte Welt der Justiz

Thomas Dieterich, Präsident des Bundesarbeitsgerichtes, 1998 in Kassel
Thomas Dieterich, Präsident des Bundesarbeitsgerichtes, 1998 in Kassel © dpa / picture alliance / Uwe Zucchi
Von Michael Schikowski · 17.09.2016
Thomas Dieterich war von 1987 an Richter des Bundesverfassungsgerichts. 1994 wählte man ihn zum Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts, 2016 starb er in Kassel. Seine Autobiografie gewährt Einblicke ins Rechtsleben, aber auch in eine Flüchtlingsbiografie.
Dieterichs richterliche Entscheidungen waren an vermittelnden Lösungen in rechtspolitischen Kontroversen interessiert. In seinem Buch geht er ausführlich auf strittige Auseinandersetzungen im Arbeitsrecht ein: die Arbeitskampfurteile, den Beschluss zur Mitbestimmung in Vergütungsfragen und die Entscheidung zur ablösenden Betriebsvereinbarung.
Seine Karriere verdankt sich auch der Tatsache, dass das Arbeitsrecht in den 1950er Jahren mit der gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Entwicklung der BRD Schritt halten musste. Dazu schreibt Dieterich:
"Dieses Recht stand offenbar vielfach nur auf dem Papier. Die Arbeitnehmer kannten zwar durchaus ihre gesetzlichen und vertraglichen Rechte, trauten sich aber nicht, diese auch gegen den Widerstand ihres Arbeitsgebers durchzusetzen. Erst wenn das Arbeitsverhältnis ohnehin abgewickelt werden musste, kam alles auf den Tisch, was schon immer Ärger gemacht hatte: Überstunden, Urlaub und Urlaubsgeld, Provisionen, Fahrtkosten oder Schadenersatz." (S. 43)
Wie aber in dieser Zeit der Markt sich vom Verkäufer- zu einem Käufermarkt wandelte, so stiegen mit der sich in Richtung Vollbeschäftigung entwickelnden Wirtschaft auch die Ansprüche. Denn eine auf Innovation beruhende Gesellschaft entwickelt nicht allein neue Produkte, sondern auch neue Beschäftigungsformen, die wiederum neue Regulierungen verlangen. Regulierungen, die weniger durch das Rechtssystem als durch die Produzenten und Verbraucher mithin durch das Wirtschaftssystem selbst erforderlich werden.

Im Arbeitsrecht kollidieren die Rechtsauffassungen

Thomas Dieterich beschreibt seine Praxis als Arbeitsrichter als Beschäftigung mit kollidierenden Rechtsauffassungen. So sind Richter beispielsweise gezwungen, den überaus hoch gehaltenen Grundsatz der Vertragsfreiheit gegen eine Inhaltskontrolle von Arbeitsverträgen stets neu abzuwägen. Auch Tarifverträge sind an die Grundrechte gebunden – in der sozialen Praxis der frühen BRD sieht das allerdings dann ganz anders aus.
Am Ende seiner Laufbahn wächst die Verdichtung der gesetzlichen Regelungen extrem an. Der Neoliberalismus bricht sich in dieser Zeit Bahn und erfindet die "Regelungswut" der Behörden und die Deregulierung. Nun sind es diese Regelungen, die doch Ausdruck einer komplexen Gesellschaft sind, nun sollen sie es sein, die schaden. Thomas Dieterich über diese Zeit:
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© Cover: Berliner Wissenschafts-Verlag
"Nach dem Zusammenbruch der DDR galt es als erwiesen, dass der Kapitalismus wegen seiner Überlegenheit gesiegt hatte, und zwar ein Kapitalismus der marktradikalen Spielart. Schon in den vorangegangenen 15 Jahren hatte sich dieser Neoliberalismus in der Bundesrepublik vollkommen durchgesetzt. Dass jede Beschränkung des Wettbewerbs im Ergebnis schadet, galt als Faktum, das auch die SPD, die Gewerkschaften, ja sogar die Kirchen nicht mehr bestreiten, sondern nur noch abfedern wollten. Als ich im Ausschuss des Bundestages für Arbeit und Soziales behauptet hatte, das deutsche Tarif- und Betriebsverfassungsrecht wirke als Standortvorteil im globalen Wettbewerb, galt das als so absonderlich, dass ich zu einem Arbeitgebertreffen in Essen vorgeladen wurde, wie Luther zum Reichstag in Worms." (247)
Damit bedient sich Dieterich einmal eines gewagten und vielleicht gar nicht ernst gemeinten Vergleichs – der Auftritt scheitert übrigens wieder an gesellschaftlicher Komplexität: einem Verkehrschaos – ist sein Text doch sonst spröde, nüchtern und sachlich. Auch alles Familiäre bleibt sorgsam ausgespart, ja verborgen, und die genaue soziale Herkunft des Thomas Dieterich, der Vater war Lehrer, ein Onkel Kunsthistoriker, bleibt im Dunkeln.

Ein Flüchtlingskind aus Schlesien

Umso wichtiger ist ihm der Verweis auf seine Erfahrungen als Flüchtling und Angehöriger einer Minderheit. Erfahrungen, die er allerdings durch seine berufliche Entwicklung auch zu relativieren lernt. Der Blick des armen Flüchtlings sieht nur die scharfe Unterscheidung zwischen Besitzenden und Besitzlosen. So schreibt er am Ende des Buches:
"Für den Richter jedoch ergab die Auseinandersetzung mit den rechtlichen Konflikten und Interessengegensätzen der folgenden Jahrzehnte ein viel differenzierteres Bild. (…) Eine ganz ähnliche Metamorphose erfuhr meine Prägung als Minderheit. Zunächst standen Schutzbedürfnisse ganz im Vordergrund meiner Problemsicht. Aber schon der Begriff der Minderheit ist unscharf und abhängig von definierenden Merkmalen." (S. 266 f.)
Seinen Bericht über die Flucht aus Schlesien setzt Thomas Dieterich allerdings schon an den Anfang seines Buches. Er sieht sich durch diese Zeit tief geprägt. Denn wer jemals rechtsfreie Räume über Monate oder gar Jahre erlebt hat, vergisst das nie wieder.
Dass sich die Deutschen aus europäischer Sicht im Falle der Flüchtlingskrise so seltsam verhalten, so ganz anders als die in ihrer Geschichte so oft vertriebenen Polen oder auch so anders als die von Flüchtlingserfahrungen so freien Britten, mag doch darin seinen Grund haben. Diese auch in Deutschland nicht unumstrittene Haltung mag sich zum Teil doch auch wie bei Thomas Dieterich einer Erfahrung verdanken, die Trauma war und blieb, allerdings ein bearbeitetes und angenommenes Trauma.

Kollektiverfahrung der Vertreibung

Was also, wenn die Deutschen ihre Flüchtlingspolitik gar nicht einer vorgeblich einsam entscheidenden Bundesregierung unter Angela Merkel verdanken? Was, wenn sie gar nichts mit einem schlechten Gewissen aufgrund der Naziverbrechen zu tun hat? Was, wenn all dies aus einer verstandenen, weil stets erinnerten Kollektiverfahrung von Flucht und Vertreibung hervorgeht?
Dann wird man das Problem sehen und ihm begegnen, weder maß- noch hilflos, und eben nicht als eine Frage des Gefühls, sondern des Denkens. Eines Denkens, das man bei Thomas Dieterich lernen kann: differenziert und analytisch.

Thomas Dieterich: Ein Richterleben im Arbeits- und Verfassungsrecht
Berliner Wissenschafts-Verlag 2016
270 Seiten, 34 Euro

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