Thomas Boyce: "Orchidee oder Löwenzahn?"

Empfindsame Kinder schon als Babys erkennen

05:58 Minuten
Nicht alle Kinder reagieren gleich auf ihre Umwelt: "Orchideenkinder" seien besonders durchlässig und empfindlich, schreibt der Psychiater W. Thomas Boyce.
Nicht alle Kinder reagieren gleich auf ihre Umwelt: "Orchideenkinder" seien besonders durchlässig und empfindlich, schreibt der Psychiater W. Thomas Boyce. © picture alliance/imageBROKER; Droemer
Von Susanne Billig · 22.03.2019
Audio herunterladen
Warum Menschen so unterschiedlich sind und wie sich alle gut entwickeln können - das ist der Untertitel dieses Sachbuchs, das auch als Erziehungsratgeber gelesen werden kann. Der Psychiater Thomas Boyce liefert darin überraschende Forschungsergebnisse.
Die meisten Kinder sind wie der Löwenzahn: Sie gedeihen fast überall, wo man sie hinpflanzt. Andere ähneln den Orchideen: Bei Fürsorge und Freundlichkeit wachsen sie zu Menschen von großer Schönheit und Komplexität heran. Doch ohne sorgsame Pflege laufen sie Gefahr zu verkümmern.
Was beim ersten Lesen ein wenig esoterisch klingen mag, entfaltet sich in dem Buch "Orchidee oder Löwenzahn" von W. Thomas Boyce zu einem mitreißenden Lebens- und Forschungsbericht. Denn der Autor – Psychiatrieprofessor und Spezialist für neurobiologische und psychosoziale Entwicklungsprozesse bei Kindern – hat Ursachen und Auswirkungen der so markant verschiedenen Ausgangsbedingungen kindlichen Heranwachsens in jahrzehntelangen Studien mit seinem Team selbst aufgeklärt.

Auswirkungen von Stress auf Kinder

Den klugen, aber auch empfindlichen "Orchideenkindern" kamen die Wissenschaftler interessanterweise nur deshalb auf die Spur, weil sie an der Interpretation ihrer Forschungsdaten zu scheitern drohten, erzählt das Buch. In Untersuchungen über die Auswirkungen von Stress auf Kinder schienen die Daten immer wieder von einem "Hintergrundrauschen" überlagert – zufälligen, unerklärlichen Variationen, die zum Fokus der Arbeit scheinbar nichts beitrugen. Doch die Kinder mit den Variationen ließen sich so hartnäckig nicht weginterpretieren, dass die Wissenschaftler schließlich ihren Deutungsansatz umkrempelten: Sie gelangten zu der Erkenntnis, dass es zwei grundsätzliche Entwicklungsbögen bei Kindern geben muss.
Interessant dabei ist, so enthüllt der Autor nach und nach, dass die empfindsameren Orchideenkinder keineswegs grundsätzlich gefährdeter sind in ihrer Entwicklung. Ihre Besonderheit besteht eher in einer größeren Durchlässigkeit für Einflüsse aller Art. Darum sprechen sie auch auf positive Zuwendung intensiver an als Löwenzahnkinder. Das bedeutet auch, dass Orchideenkinder, selbst wenn sie Schlimmes erlebt haben sollten, sich gut wieder erholen können – intensive Fürsorge vorausgesetzt.

Spannende Enthüllungs- und Entdeckungsgeschichte

Der Buch von W. Thomas Boyce hat alles, was ein gutes Wissenschaftssachbuch braucht: einen starken roten Faden, der sich spannend als Enthüllungs- und Entdeckungsgeschichte liest; eine breite Palette wissenschaftlicher Erläuterungen, angereichert mit Forschungsdaten und Studien satt, die von Genforschung und Evolution bis hin zu Pädagogik und Soziologie reichen; ein humanes Anliegen, das dem Text einen warmen Grundton gibt und ihn mit einer vorwärtstreibenden Mission ausstattet; Fallgeschichten und persönliche Erfahrungen, hat der Autor doch selbst erlebt, wie seine Orchideenschwester an einem Elternhaus scheiterte, das ihn problemlos heranwachsen ließ.
Nicht zuletzt lässt sich dieses Buch von Eltern und Pädagogen auch als Erziehungsratgeber lesen, die hier lernen können, woran sie ein besonders empfindsames Kind schon im Babyalter erkennen und wie sie ihm eine Extraportion an körperlicher Zuwendung und Geborgenheit zukommen lassen können, damit auch diese Kinder sich optimal entwickeln können.

Thomas Boyce: Orchidee oder Löwenzahn? – Warum Menschen so unterschiedlich sind und wie sich alle gut entwickeln können
Übersetzt von Claudia Van Den Block
Droemer Verlag, München 2019
336 Seiten, 19,99 Euro

Mehr zum Thema