Theatertreffen 2017 – ein Kommentar

Lautes Dröhnen und bescheidenes Flüstern

Die Borderline Prozession: Andreas Beck, Paulina Alpen, Ekkehard Freye (v.l.n.r.)
Die Dortmunder "Borderline Prozession" von Intendant und Regisseur Kay Voges: Hier-und-Jetzt-Theater, das in Erinnerung bleibt, so André Mumot. © Marcel Schaar
Von André Mumot · 21.05.2017
Mit einer Diskussion im Haus der Berliner Festspiele endete das Theatertreffen 2017. Die runderneuerte Jury brachte eine ungewohnte Auswahl nach Berlin, kommentiert André Mumot: unerwartet Unspektakuläres neben eindrücklichem Überwältigungstheater.
Was muss ein Theaterabend denn nun haben, um nach Berlin eingeladen zu werden: "Das Neue, die Abweichung, Erfahrungen, über die man anschließend diskutieren will, über die man reden muss." So hat es die Theatertreffen-Jury bei ihrer Abschlussdiskussion zu erklären versucht. Oder wie Jury-Mitglied Dorothea Marcus schlicht sagte: "Irgendwann muss es mal knallen beim Gucken."
Schon lange nicht mehr waren die Erwartungen so hoch. Schließlich ist die Jury bis auf zwei Mitglieder runderneuert worden. Und während es in der letzten Zusammensetzung nur eine Frau gab, stehen diesmal drei männlichen Kritikern vier Kritikerinnen gegenüber. Eine jüngere, eine weiblichere Jury, so hieß es schon im Vorfeld, wird ja wohl dichter dran sein am Bühnenpuls der Gegenwart und endlich die Provinz berücksichtigen, den Osten, die freie Szene.

Die Jury brachte Ungewohntes nach Berlin

Tatsächlich: Auftrag erfüllt. Die Auswahl in diesem Jahr hat Ungewohntes in die Hauptstadt gebracht, Überraschungen – und Ladehemmungen. Gleich zwei der ausgewählten Stücke konnten nicht gezeigt werden: Ulrich Rasches Münchner Residenztheater-Inszenierung von Schillers "Räubern", hätte sich mit ihren wuchtigen Massenaufläufen und Laufbandmärschen auf keiner Berliner Bühne umsetzen lassen. Ebenso fiel der Hamburger "Schimmelreiter" in der Regie von Johan Simons aus, da Hauptdarsteller Jens Harzer wegen einer schweren Erkrankung kurzfristig absagen musste.
Die übrig gebliebenen acht Stücke haben dennoch volles Reibungspotential entfaltet – abgesehen vielleicht von Herbert Fritschs "Pfusch", seinem durch die Bank bejubeltem Volksbühnenabschied. Zum siebten Mal ist er beim Festival dabei gewesen, gewiss nicht mit seiner besten Arbeit, aber mit seiner verlässlich garstigen Slapstick-Meisterschaft. In Erinnerung aber bleibt dann doch eher das Hier-und-Jetzt-Theater, das sich zum Beispiel groß und laut in der Dortmunder "Borderline Prozession" von Intendant und Regisseur Kay Voges präsentierte. Für die gigantische Show der multimedialen Gleichzeitigkeiten musste in Berlin Schöneweide ein eigenes Theater errichtet werden – für ein Ergebnis, das viele als Sensation preisen und andere als oberflächliche Effekthascherei abtun.

Überwältigendes neben Unspektakulärem

Auch bei Claudia Bauers monumentalem Wende-Oratorium "89/90" aus Leipzig ist klar: An diesem Stück kam man nicht vorbei. Schließlich wurde selten die deutsche Vergangenheit so eindrücklich auf die Bühne gebracht, so wild und so entnervend rücksichtslos. Und neben dem Überwältigungstheater? Unerwartet Unspektakuläres:
Die "Real Magic"-Performance von "Forced Entertainment" etwa, ein Abend der freien Szene, der nicht viel mehr zu sein scheint als eine virtuose Fingerübung ohne auffällige Hintergedanken. Oder Thom Luz' Mainzer Produktion "Traurige Zauberer", in der anderthalb Stunden fast nichts passiert außer dem versonnenen Hinhauchen von Bühnennebel, Liedern und Anekdoten.

Ein grandioser Milo Rau

Vielleicht muss es ja doch nicht immer knallen beim Gucken. Das ist am Ende das wirklich Herausragende dieses Theatertreffens: Dass es der Jury gelungen ist, das Große und das Kleine miteinander zu kontrastieren, lautes Dröhnen und bescheidenes Flüstern. Zumal eine der grandiosesten Einladungen der letzten Jahre all das so zart wie unerbittlich zusammenführte: Milo Raus "Five Easy Pieces" – eine freie, internationale Koproduktion, in der Kinder zwischen 9 und 14 Jahren die Geschichte des belgischen Kindermörders Marc Dutroux aufarbeiten.
Doch weniger um ihn und um seine Morde geht es hier, als ums Theater selbst. In der trotzigen, mitreißenden Spielfreude der jungen Darsteller lässt sich schön und schrecklich wie selten ablesen, warum wir das Theater brauchen, warum wir in Rollen schlüpfen und die entsetzlichsten Dinge auf die Bühne bringen müssen – um im Spiel stärker zu sein als alle Katastrophen
War all das nun, wie die Jury zum Abschluss noch mal betonte, ein symbolisches Tableau unserer gesellschaftlichen Umbrüche? Vielleicht. Mit seinen Reibungen von Groß und Klein, von leisem und lautem Bühnenzauber ist es aber vor allem eins gewesen: eine Feier des Theaters.
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