Theater der Welt

"17 Tage lang nicht schlafen"

Matthias Lilienthal, aufgenommen, am 16.09.2013 in München (Bayern).
Matthias Lilienthal, aufgenommen, am 16.09.2013 in München (Bayern). © picture alliance / dpa / Tobias Hase
Matthias Lilienthal im Gespräch mit Matthias Hanselmann · 23.05.2014
Ab heute wird Mannheim für gut zwei Wochen zum Tollhaus: Künstler aus der ganzen Welt machen die Stadt zur Bühne. Der Kurator der Festivals, Matthias Lilienthal, erzählt, was es zu erleben gibt - unter anderem 23 ungewöhnliche Hotelzimmer.
Matthias Hanselmann: 17 Tage Theater, das verspricht Kurator Matthias Lilienthal der Stadt Mannheim, und heute Abend geht’s los. "Theater der Welt" heißt das internationale Festival, das bis zum 8. Juni Künstler aus Beirut, Moskau, Tokio, Istanbul oder Santiago de Chile zusammenführt. 1981 wurde das Festival gegründet und gastiert seither alle drei Jahre in einer anderen deutschen Stadt. Matthias Lilienthal, der demnächst die Kammerspiele München übernehmen wird, ist Kurator von "Theater der Welt" und leitet das Festival. Mit ihm spreche ich jetzt. Hallo Herr Lilienthal!
Matthias Lilienthal: Hallo!
Hanselmann: Sie haben vor Kurzem in einem Interview mal gesagt, dass Ihnen der Titel "Theater der Welt", also "Theater of the World" im Ausland peinlich ist – wieso das denn?
Lilienthal: Ja, es kommt mir ein bisschen so vor, als ob ich sage, ich bin ein kolonialistisches Arschloch aus Deutschland, weil Titel tun natürlich so, als ob wir alle noch genau wüssten, was Theater und was Welt ist. Und ich glaube, bei beiden Dingen weiß das im Moment niemand mehr.
Hanselmann: Wieso bleiben Sie dann bei dem Titel?
Lilienthal: Weil ich die Diskussionen …in Beirut weg war, und so einen erfolgreichen Titel zu ändern, das ist ein langwieriger Diskussionsprozess.
Hanselmann: Sie leiten das Festival jetzt zum zweiten Mal. Beim ersten Mal, 2002, da hatten Sie die sogenannten "X Wohnungen" erfunden, also eine Mischung aus Kunst, Theater, Führung und Performance, die in den Wohnungen von Leuten stattfindet, die die Besucher vorher nicht kennen. Das Projekt ist inzwischen ein regelrechter Dauerbrenner geworden und auch schon mehrfach im Ausland gelaufen. Dieses Mal gibt es "X Firmen", wo geht’s denn da lang?
Mannheim – "wie die Erinnerung an den Anfang der 1980er"
Lilienthal: Da geht es zum Beispiel durch die Mannheimer Innenstadt, durch die Quadrate, durch migrantische Geschäfte mit Brautmoden, mit Lebensmitteln, aber auch durch eine Klinik. Und in einer zweiten Tour geht es dann durch die SAP.
Hanselmann: Wieso ausgerechnet in diesen Firmen?
Lilienthal: Als ich so das dritte Mal in Mannheim war, stand ich da auf so einer kleinen Fußgängerbrücke und hab mich denn gefragt, warum mir das alles so bekannt vorkommt. Und natürlich, in Berlin ist die gesamte Industrie verloren gegangen nach '89, und Mannheim ist eine Stadt, die immer noch 100.000 industrielle Arbeitsplätze hat bei 300.000 Einwohnern, und deswegen wirkt das manchmal so wie die Erinnerung an den Anfang der 80er-Jahre.
Hanselmann: Und wie wird das sein, wird das Publikum einfach nur in Grüppchen aufgeteilt und dann zu diesen Firmen gehen und sie besichtigen oder wird da was Besonderes geboten?
Lilienthal: Nein, an jeder Station … Also jede Tour hat sieben bis acht Stationen, und an jeder Station gibt es eine Inszenierung einer freien Gruppe, eines Künstlers, und es werden Themen diskutiert. Chris Kondek macht einen Beitrag zum Beispiel zum Big Data in der SAP, oder Alexander Giesche macht auch in der SAP etwas, wahrscheinlich zu der Gleichförmigkeit der Lebenswelten dort, und viele andere Künstler in den anderen Touren.
Hanselmann: So wie ja lokale Bezüge zum Festivalort auch in mehreren Produktionen eine Rolle spielen, es wird, wie ich gelesen habe, Hotelzimmer geben, die sehr ungewöhnlich sind, "HOTEL shabbyshabby" genannt, also schäbig-schäbige Hotelräume. Wie und wo wohnt man denn da?
Fremden Blick auf eigene Realität ermöglichen
Lilienthal: An 23 verschiedenen Orten der Stadt, also zum Beispiel am Zusammenfluss von Neckar und Rhein, auf dem Dach des Stadthauses. Es gibt dann auch ein Collini Bay Resort – Collini ist so ein 70er-Jahre-Hochhaus, was in der Stadt nicht so gemocht ist, dort wird aber ein Bay Resort aufgemacht, und natürlich verspricht ein Theaterfestival den Blick auf exotische und unbekannte Welten. Und anstelle dessen laden wir die Bewohner Mannheims und die Besucher des Festivals zu einem fremden Blick auf ihre eigene Realität ein.
Hanselmann: Und was für eine Art von Hotelzimmer sind das dann?
Lilienthal: Das sind von Raumlabor und internationalen Architektengruppen zusammen entworfene, zum Beispiel rund um das Schillerdenkmal. Da schläft man letztendlich in den Armen von Schiller. Oder es ist das Nationaltheater in Mannheim – hier sollte mal von Mies van der Rohe gebaut werden, und die Stadt hat dann den Entwurf verworfen. Und jetzt realisieren wir da an der Neckarspitze genau diesen durchsichtigen Mies-van-der-Rohe-Neubau, ein bisschen kleiner als das Nationaltheater.
Hanselmann: Klingt sehr gut! Also viel Recherche auch zur Geschichte der Mannheim war im Vorfeld nötig, das hört man raus.
Lilienthal: Ja, also auf der einen Seite hat das Festival große Touringproduktionen wie Angélica Liddell oder wie Anne Teresa De Keersmaeker, und auf der anderen Seite: Bei dem Hotelprojekt arbeiten 120 Architekturstudenten und bauen diese Hotelzimmer auf, und gestern mussten wir leider die Hotelzimmer absagen, weil ein Riesengewitter über der Stadt runtergekommen ist. Aber diese 120 Studenten sind zum Beispiel die ersten Performer, die da sind, und bei "X Firmen" halten sich zehn Tage lang 21 internationale Künstler auf, um hier zu arbeiten.
"Merkwürdigen Genderwesen werden Spuren hinterlassen"
Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", ich spreche mit Matthias Lilienthal, der im kommenden Jahr Intendant der Münchner Kammerspiele sein wird und in diesem Jahr das Festival "Theater der Welt" in Mannheim leitet. Herr Lilienthal, was kann dieses Festival der Stadt Mannheim und der ganzen Rhein-Neckar-Region geben? Wird sie ein Stück exotischer dadurch?
Lilienthal: Exotischer weiß ich nicht genau, aber bisher gibt es hier in den Theatern eine extrem gute Arbeit in Richtung von neuen Stücken und in Richtung von narrativen Formaten, und ich glaube, dass das Festival Performancekunst zum zentralen Bestandteil von Kunst heute erklären wird, und das mit merkwürdigem Genderwesen, und das wird schon ein paar Spuren in der Region hinterlassen.
Hanselmann: Sie haben kürzlich fast ein Jahr in Beirut gelebt und unterrichtet – hat das Ihren Blick auf das Leben hier in Deutschland vielleicht auch auf das Theatermachen irgendwie verändert?
Lilienthal: Wenn man zurückkommt, denkt man, man wohnt auf einem Friedhof, weil einfach das Leben in Beirut sehr viel anstrengender, aggressiver, flirtiger, lauter und mit mehr Menschen begleitet ist, und an diese Ruhe muss man sich dann erst mal total gewöhnen. Und man ist dann natürlich so ein bisschen krisenerprobter, und dass Deutschland regelmäßig wegen ein paar Asylanten oder wegen einer Eurokrise dann droht stillzustehen, fällt einem dann ein bisschen schwerer nachzuvollziehen.
Hanselmann: Aber eine ruhige Kugel werden Sie in den nächsten Tagen garantiert nicht schieben.
Lilienthal: Ich kann ruhig eine ruhige Kugel schieben. Ich hoffe, dass die Bewohner Mannheims 17 Tage lang nicht zum Schlafen kommen.
Hanselmann: Viele Namen im Programm kennt man aus Ihrer Zeit im Hebbel am Ufer hier in Berlin. Da ist zum Beispiel Gob Squad mit einem Dialog aus "Unendlicher Spaß" von David Foster Wallace, gespielt als Tennismatch, und dazu sagten Sie, die Inszenierung sei durch das 15. Gastspiel erst richtig gut geworden. Werden Inszenierungen durch die Ortsveränderung, durch das Reisen wirklich besser statt sich abzunutzen?
Eröffnungsrede von Jacob Appelbaum – "fast so gut wie Snowden"
Lilienthal: Das hat Bruno Beltrao über "CRACKz" gesagt. Bei "CRACKz" trifft das total zu. Vor eineinviertel Jahren in Brüssel kam Bruno drei Tage vor der Uraufführung mit zwölf Minuten Material an, die dann bei der Premiere sich so auf 30, 35 Minuten gestreckt hatte, und das ist jetzt eine wunderbare Inszenierung, die aber wirklich durch das Touring gut geworden ist. Gob Squad ist eigentlich eine Auskopplung aus der Langspielplatte "Infinite Jest" und wird in dem Sinne das erste Mal aufgeführt. Und dieses Tennisspiel im Stadion ohne Schläger und ohne Ball ist total lustig.
Hanselmann: Sie haben gesagt, man könne Sie selbst auch für zu Hause buchen. Sie kommen dann und stellen das Programm persönlich vor, so wie das Ihre Vorgängerin Frie Leysen auch schon gemacht hat. Sind Sie denn schon gebucht worden?
Lilienthal: Ich hab das 35-mal gemacht, als so eine Art von Videoschnipselvortrag und mit performatierten Elementen, und das hat mir auch total Spaß gemacht, und die Mannheimer haben da begeistert von Gebrauch gemacht, nur in Berlin waren ein paar verschnupft, dass ich es da nicht gemacht habe.
Hanselmann: Die Eröffnungsrede des Festivals soll heute Jacob Appelbaum halten, der ist Internetaktivist und ein Vertrauter des Whistleblowers Edward Snowdon. Was hat denn Jacob Appelbaum mit dem Theater zu tun?
Lilienthal: Sein Vater war Regisseur in San Francisco, und seine ganze kulturelle Werdung kommt daher, und außerdem, ob irgendwas Theater ist, war mir doch immer sowieso völlig wurscht, sondern ich finde das einen interessanten Beitrag. Und noch lieber hätte man natürlich Edward Snowdon gehabt, aber Jacob Appelbaum ist fast so gut, und dass der was zum Thema Aufklärung erzählt, finde ich super, und er hat sich halb totgelacht darüber, dass Aufklärung einerseits der Begriff aus der deutschen Klassik und dann andererseits der Begriff aus der Spionage, dass sich diese beiden Begriffspaare so treffen.
Eine Revue, die die Zeit von Tschechow bis heute erzählt
Hanselmann: Los geht's heute Abend mit gleich mehreren Großpremieren im Theater: die Uraufführung von Elfriede Jelineks Stück "Die Schutzbefohlenen", also das Stück zu den Lampedusa-Flüchtlingen, inszeniert von Nicolas Stemann. Dann wird es ein Konzert aus aufgetunten Stereoanlagen verschiedener Autos geben, und schließlich Dmitri Krymov aus Moskau mit "Ta-ra-ra-bum-bia", ein Theaterstück fast ohne Worte auf einem Laufband oder Fließband oder wie muss man sich das vorstellen?
Lilienthal: Ein Gepäcktransportband, auf dem die Figuren von Tschechow dem Paradies entgegengetrieben werden, also so ein bisschen wie bei Walter Benjamin, nicht mit dem Rücken zum Paradies. Und da kommt ein riesiges russisches Blasorchester aus sowjetischer Zeit, da gibt es zehnmal die "Drei Schwestern" oder Nina aus der "Möwe" erscheint in einem Hochzeitskleid mit acht Meter großen, weißen Flügeln, also eine Revue, die eigentlich die Zeit zwischen der Tschechow-Zeit und heute erzählt.
Hanselmann: Das wird alles sicherlich sehr spannend. Vielen Dank an Matthias Lilienthal, den Leiter des diesjährigen Festivals "Theater der Welt" in Mannheim, von heute bis 8. Juni dort zu erleben, alle Einzelheiten finden Sie unter theaterderwelt.de. Danke schön, Herr Lilienthal!
Lilienthal: Vielen Dank Herr Hanselmann!
Hanselmann: Und natürlich werden wir das Festival hier im Deutschlandradio Kultur umfangreich begleiten, zum Beispiel senden wir "Fazit" live vom Eröffnungsabend heute ab 23 Uhr aus dem Festivalzentrum am Nationaltheater Mannheim, unter anderem mit Dmitri Krymov und mit dem Regisseur von Elfriede Jelineks "Die Schutzbefohlenen", also mit Nicolas Stemann, und im Anschluss wird unsere Kritikerin die Qualität der Inszenierung beantworten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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