Teju Cole: "Blinder Fleck"

Das Sichtbare kann täuschen

"Blinder Fleck" von Teju Cole
"Blinder Fleck" des nigerianisch-amerikanischen Schriftstellers Teju Cole © Verlag Hanser Berlin/imago/Leemage
Von Claudia Kramatschek · 09.06.2018
Der Band "Blinder Fleck" beruht auf einer kurzzeitigen Erblindung des Autors Teju Coles. Danach sei das Sehen für ihn anders gewesen. Mit Stift und Kamera erkundete der nigerianisch-amerikanische Schriftsteller und Fotograf neu die Welt und die Essenz der Orte.
In Teju Coles brillantem Roman "Open City" durchstreift der männliche Protagonist ein von diversen Wunden heimgesuchtes New York: Da sind die Nachwirkungen des 11. September, die ein Zusammenleben in friedlicher Differenz nunmehr zur Disposition stellen. Da sind all jene Orte, die an die Zeit erinnern, als auch New York ein Umschlagplatz im grausamen Sklavenhandel war. Erst spät begreift man zweierlei: Der Erzähler ist selbst ein Schwarzer – Cole überführt somit seine Leser eines blinden Flecks. Und: Dieser Protagonist hat selbst einen blinden Fleck in seiner Wahrnehmung. Einst hat er eine Frau auf einer Party vergewaltigt – als er sie wieder trifft, kann oder will er sich nur schwer erinnern.
Der Roman erschien im Original 2011. Im gleichen Jahr – ist es Zufall? – erblindet Cole für kurze Zeit auf einem Auge: Eine papilläre Vaskulitis, hervorgerufen von beschädigten Blutgefäßen in seiner Netzhaut, führt zum Ausfall seines Sehvermögens. Danach, so schreibt Teju Cole wie beiläufig in seinem neuen Band "Blinder Fleck", war das Sehen anders. Vielleicht aber trat nur stärker zutage, was sich – der vorliegende Band bestätigt das – als grundlegendes Leitmotiv im Werk des Schriftstellers und Fotografen erweist? Alles darin kreist um die Fragen: Was ist Sehen? Wie sehen wir die Welt – und damit den oder das sogenannte Andere? Und: Was ist unsichtbar, für uns, für andere? Und wie kann das, was unsichtbar ist, entziffert und somit wieder erinnerbar gemacht werden?

Fotografien aus dem Libanon, Syrien, Irak

Diesen Fragen gehorchen auch die Fotografien im vorliegenden Band. Sie stammen aus rund drei Jahren, in denen Cole quer durch die Welt gereist ist: Seoul, der Libanon, Syrien, Irak, aber auch Deutschland und die Schweiz sind nur einige der unzähligen Stationen. Klassische Reisefotos sind das mitnichten. Cole sucht die Essenz der Orte quasi von der Flanke her: Gerüste, Verstrebungen, eine Baustelle neben dem Tempel. Und doch zeigt Cole quasi wie im Negativ – Krieg, Blut oder direkte Gewalt sieht man nie – die Welt als Ort der vielfachen Versehrung: Zusammen gedrängte Stühle auf Coles Weg zu einer Versammlung von Black Lives Matter. Heruntergelassene Rollläden in Indonesien, wo das Massaker von 1965 bis heute nicht erwähnt werden soll. Es geht um Verdingkinder, um Hexenverbrennungen, um zerschossene Mosaiken.
Dass wir diese Bilder lesen können, verdanken wir den Texten, die Cole ihnen zur Seite stellt. Mal umfassen sie nur wenige Zeilen. Alle aber haben es in sich: Viel ist von christlicher Mythologie die Rede, Engel kehren immer wieder. Oft muss man den Bezug zum Foto wie ein Archäologe selbst freilegen. Das ist gewollt – und Prinzip: "Unter jeder Karte", so heißt es an einer Stelle, "liegt eine weitere Karte der Erinnerung". Sprich: Da das Sichtbare uns täuschen kann, müssen wir lernen – so Cole –, unserem eigenen Blick zu misstrauen und das Nicht-Sichtbare auszugraben.
Coles Band "Blinder Fleck" entpuppt sich insofern als eine Schule des Sehens – und als ästhetische Intervention gegen eine Welt, die täglich in fataler Weise das sogenannte Andere konstruiert.

Teju Cole: "Blinder Fleck"
Aus dem Englischen von Uda Strätling
Mit einem Vorwort von Siri Hustvedt
Verlag Hanser Berlin, Berlin 2018
350 Seiten, 38 Euro

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