Teilchenbeschleuniger in der Nähe des Urknalls

23.06.2008
Seit 20 Jahren wird auf diesen Zeitpunkt hingearbeitet, an dem die Physiker sich mit ihrem Super-Teilchenbeschleuniger in die Nähe des Urknalls wagen wollen. Was dahinter steckt, ist kaum anderswo so wunderbar prägnant, umfassend und spannend auf wenigen – genau 99 Seiten - erzählt worden.
Der LHC mit seinen technischen Teilen und Anlagen ist, so erfahren wir, dass "größte und komplexeste wissenschaftliche Gerät, das die Menschheit jemals gebaut hat". Diese Sachinformation ist das eine, aber der Autor versteht es auch, den neugierigen und vielleicht auch kritischen Leser so zu fesseln, dass er an keiner Stelle auf den Gedanken verfallen muß, den ungeheuren finanziellen Aufwand infrage zu stellen. Wofür viel öffentliches Geld aufwenden, ist man nach der Lektüre geneigt auszurufen, wenn nicht dafür – jenseits konsumorientierter Anwendungsforschung – Erkenntnisse darüber zu gewinnen, was mit uns, mit unserem Universum passierte und passieren wird.

Der Large Hadron Collider ist ein Ringtunnel von 27 Kilometern Durchmesser, 100 Meter tief unter der Erde, in dem Protonen auf nahezu Lichtgeschwindigkeit beschleunigt und dann zur Kollision gebracht werden. Die dabei erreicht Energie gleicht der, die eine billionstel Sekunde nach dem Urknall herrschte. In einem kurzweiligen Frage – und Antwortspiel erläutert der Autor, was die Physiker am CERN bis heute wissen und was nicht. Sie wissen, dass alle Materie aus zwölf Grundbausteinen bestehen – aus sechs Quarks und sechs sogenannten Leptonen. Alle die Teilchen, die sich aus Quarks zusammensetzen, dazu gehören auch die Protonen, nennt man Hadronen. Daher auch der Name Large Hadron Collider. Ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit und Mühe wird bei der Lektüre abverlangt, um mit den vielen neuen Teilchennamen, Wechselwirkungen und Modellen zurechtzukommen. Der kurze Durchgang durch die Grundlagen der Quantenphysik, den der Autor in der ersten Hälfte seines Büchleins anbietet, mag mit größerem Gewinn nur von Physikstudenten des dritten und vierten Semester zu verarbeiten sein. Aber das tut der Lektüre eigentlich keinen Abbruch, zumal wenn wir zwischendurch mit dem imponierenden Gedanken vertraut gemacht werden, dass die Protonen, aus denen die Atomkerne bestehen und aus denen wir bestehen, während des Urknalls entstanden. Eine klare Botschaft, die neugierig macht auf das, was am Anfang war.

Und was wissen die Physiker noch nicht ? Vieles, wäre die kurze Antwort. Was das aber im Detail bedeutet, nimmt den größten Raum des Büchleins ein. Der Autor gestattet dem Leser einen Blick in die Werkstatt der theoretischen Physiker, die sich immer wieder neue Modelle ausdenken – mit viel Mathematik - um mit ihrer Hilfe zu einem besseren Verständnis des Universums und des Mikroskosmos zu gelangen. Das wohl größte Problem, das sie derzeit umtreibt, ist die sogenannten dunkle Materie und dunkle Energie. Aus ihnen bestehen 96 Prozent unseres Universums ! Aber niemand weiß heute was das ist. Physiker wären nicht Physiker, wenn sie für das Problem nicht ein Modell hätten – Supersymmetrie heißt es – dass ihnen empfiehlt, jedem derzeit bekannten Teilchen einen Partner zuzuordnen. Diese rätselhaften Partner könnten die 96 Prozent sein, gesetzt, ihre Spuren werden am LHC gefunden. Und so geht es auch bei anderen Problemen und Modellen, ob sie Higgs-Teilchen oder Stringtheorie heißen, die Evolution der Modelle und des Wissens wird mit den Experimenten am LHC vorangetrieben werden – dadurch wird die Spreu vom Weizen getrennt, das falsche Modell vom richtigen.

Erfrischend sind auch immer wieder die kurzen diesseitigen Fragen, mit denen Landua das Gegrummel spekulativer Fantasien aufnimmt: Der Bestseller-Autor Dan Brown behauptet, Antimaterie sei eine unerschöpfliche Energiequelle, sind Antimateriebomben vorstellbar, könnten bei den Experimenten am LHC gefährliche schwarze Löcher entstehen? Auch wenn die Antworten geduldig sind, bleibt es in allen Fällen bei einem "Nein".

"Am Rand der Dimensionen" ist ein Text, den man für einen Abend in die Hand nimmt und nicht mehr weg legen mag. Er gibt uns Einblicke in eine Welt des Denkens, die zugegeben nicht einfach aber dafür über alle Maßen faszinierend ist. Wer wissen will, was am LHC in CERN, von dem in der nächsten Zeit noch sehr viel die Rede sein wird, gemacht wird, der findet hier einen Schlüssel.

Rezensiert von Peter Kirsten

Rolf Landua: Am Rand der Dimensionen. Gespräche über die Physik am CERN", edition unseld / Suhrkamp-Verlag, 99 Seiten, 10 Euro