Tausend Meter Stille

21.06.2012
Corinna Bille gilt als wichtigste Autorin der französischen Schweiz. Sie wäre in diesem Jahr 100 geworden. Aus diesem Anlass ist ihr letzter Roman "Dunkle Wälder" auf Deutsch erschienen. Er handelt vom letzten Sommer einer Frau.
Ein Schweizer Bergchalet, das in "Tausend Meter Stille vom letzten Nachbarn entfernt" steht. Ein heißer, waldschattiger, einsamer Sommer des Jahres 1965, in dem die violetten Wegdisteln, die Felsennelken und Heckenrosen mit dem besonnten Lärchenharz um die Wette duften. In dem der Wald zum Schatzkästlein wird für kleine Erdbeeren und ausgeblichene Schneckenhäuser, für allerlei Pilze und Kräuter.

In diese Zeit, an diesen Ort, in diese Witterung führt uns die Autorin in ihrem Roman, der mit einem Polizeibericht über den gewaltsamen Tod der Antiquitätenhändlergattin Blanca D. beginnt, der den letzten Sommer dieser Frau um die fünfzig in ihrem neuen Chalet beschreibt, und der nicht nur mit der Erdrosselung der Protagonistin endet, sondern auch mit dem nachfolgend mysteriösen Tod ihres Mannes.

Zugegeben, es ist ein seltsames Leseerlebnis, einer bereits für tot erklärten Hauptfigur in ihre letzten Wochen in die Waldeinsamkeit zu folgen. Doch birgt die tödliche Rahmung eine Geschichte voll so lebendiger Sinnlichkeit und Welterkundung, wie sie wohl nur im steten Bewusstsein der Vergänglichkeit erstehen kann.

Es passiert nicht viel. Blanca richtet sich im Haus ein, das noch nach frisch verlegtem Dielenholz und Lack riecht. Sie macht es sich in der Einsamkeit bequem, während ihr Mann und ihre Kinder sie nur sporadisch besuchen, lebt von Brot, Käse, Schokolade und erkundet die Umgebung.

Immer tiefer stromert sie in die dunklen Wälder, lernt deren gewaltige und liebliche Seiten kennen, trifft auf Nattern und Schmetterlinge und lernt dabei noch eine ganz andere Naturgewalt mit dem Namen Guérin kennen.

Dieser Mann, der am liebsten unter Bäumen übernachtet und hier und da auf den Höfen hilft, tauscht bei ihr Funde aus dem Wald gegen Wein und Schnaps. Die Faszination ist beiderseits, und bleibt doch im Vagen, unkörperlichen, die einzige körperliche Liebesgeschichte, die der Roman erzählt, ist jene zwischen Mensch und Natur.

Und am Schluss, genauso tröstlich wie angsteinflößend, tritt Blanca ein letztes Mal in den dunklen Wald, alle Wanderungen davor erscheinen wie eine Übung für den Eintritt in den Hain des Jenseits, Guérin wird ihr Charon sein.

Der letzte Roman der 1979 verstorbenen S. Corinna Bille erzählt vom überwältigenden Glück der Naturerfahrung, er ist eine einzige Atmosphäre, er duftet, rankt, lässt beim Lesen Erinnerungen an eigene Wahrnehmungen aufsteigen, und das in einer sinnlichen, zerbrechlichen Sprache, die von der Übersetzerin Hilde Fieguth behutsam aus dem Französischen ins Deutsche gehoben wurde.

Ein Buch, das für das Leben begeistert, vom Tod erzählt, und das zugleich ein Epitaph auf die bedeutendste Autorin der Westschweiz im 20. Jahrhundert ist. Die als Erzählerin berühmt geworden und 1975 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde, die ein unstetes Künstlerleben erst in Paris und dann im Wallis geführt hat.

"Dunkle Wälder" ist die Arbeit von vielen Jahren: begonnen 1965, bearbeitet noch im Sterbejahr 1979 und vollendet sowie mit Nachwort versehen von Corinna Billes Mann, dem Schriftsteller Maurice Chappaz.

Nicht nur ein schöner Roman liegt hier erstmals auf Deutsch vor – auch ein schönes Buch hat der Zürcher Rotpunktverlag daraus gemacht: Den Text in elegante Lettern gesetzt, auf glattweichem Papier, den Umschlag mit einem Foto verziert, das die Autorin selbst aufgenommen hat, und das zusammen mit ihrem Nachlass im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern liegt.

Ein Nachlass, aus dem jedes Herüberwehen in den deutschsprachigen Buchmarkt auch in Zukunft Freude und Gewinn sein wird.

Besprochen von Katrin Schumacher

S. Corinna Bille: Dunkle Wälder
aus dem Französischen von Hilde Fieguth
Rotpunktverlag, Zürich 2012
160 Seiten, 18,50 Euro