Tadschikistan

Islamisches Land ohne Gebetsrufe

Moschee außerhalb von Dushanbe, die inzwischen nur noch spärlich besucht wird
Moschee außerhalb von Dushanbe, die inzwischen nur noch spärlich besucht wird © Deutschlandradio / St. Rohde
Von Stephanie Rohde · 21.02.2017
Alkohol ist erlaubt, der Gebetsruf des Muezzins verboten: Das zentralasiatische Tadschikistan ist ein islamisches Land, aber eines der anderen Art. Die Regierung fürchtet die Radikalisierung der Jugend - und begegnet ihr mit Zwangsmaßnahmen. Macht sie dadurch die Lage erst recht brisant?
Dass Tadschikistan heute so säkular ist, liegt nicht zuletzt daran, dass der Islam während der Sowjetherrschaft unterdrückt wurde. Das Land ist nominell islamisch, aber wer seinen Glauben frei ausüben will, kann schnell Probleme bekommen.
Aus Angst vor einer Radikalisierung durch Islamisten geht der Präsident Emomalii Rahmon seit Jahren konsequent gegen religiöse Einrichtungen vor. Trotzdem gelingt es der IS-Terrormiliz immer wieder, tadschikische Kämpfer für den Krieg in Syrien zu rekrutieren.
Wie groß ist die Gefahr der Radikalisierung in Tadschikistan selbst? Und welche Chancen gibt es für eine friedliche Re-Islamisierung in dem postsowjetischen Land?

Gekürztes Manuskript zur Sendung:
In Tadschikistan kann man die Angst der Menschen nicht immer sehen – dafür aber manchmal hören. Weil Rukhshan (Name von der Redaktion geändert) Angst hat, dass der Geheimdienst beim Gespräch mit mir zuhört, hat er dieses Fastfood-Restaurant mit viel zu lauter Musik gewählt. Bei Fritten und billigem Pop erzählt der Menschenrechtsaktivist betont beiläufig, wie die Polizei ihn vor gut einem Jahr einschüchtern wollte, weil er als gläubiger Muslim mit einem Bart herumlief.
"Sie haben mich ins Auto gezerrt und zur Polizeistation gefahren, dort haben sie mich festgehalten und mir meinen Bart abrasiert.”
Der junge Mann ist Anfang 20 und starrt desillusioniert geradeaus, während er erzählt, wie hilflos er sich in Polizeigewahrsam gefühlt hat.
"Ich habe ihnen danach gedroht, dass ich Journalisten davon erzählen werde, da meinten sie nur: Du kannst nichts ausrichten, wir haben eine Anweisung vom Innenministerium, Bärte abzurasieren.”
Allein in der Khatlon-Region im Süden Tadschikistans will die Polizei mehr als 13.000 Männern die Bärte abrasiert haben. Die Zwangsrasur ist Teil der "Anti-Radikalisierungskampagne" der tadschikischen Regierung, mit der sie eine vermutete Radikalisierung von Jugendlichen verhindern will.
Warum die Regierung gläubige Muslime wie ihn als Gefahr betrachtet, versteht der Menschenrechtsaktivist nicht. Seinen Bart lässt er trotzdem nicht mehr wachsen, aus Angst.

Gebetet wird zu Hause, nicht in der Moschee

In die Moschee geht er wie viele seiner Freunde auch nicht mehr, stattdessen betet er zu Hause, nicht jeden Tag, aber regelmäßig, erzählt Rukhshan. Wann Zeit fürs Gebet ist, müssen die Millionen Muslime in Tadschikistan selbst wissen. Hören können sie es nicht. Der Gebetsruf ist verboten. Und die wenigen Moscheen sind eher versteckt. So lässt sich am Stadtbild von Dushanbe, der Hauptstadt des Landes, nicht ablesen, dass 95 Prozent der Bevölkerung nominell Muslime sind.
Wir sind in der begrünten sowjetischen Prachtstraße im Zentrum Dushanbes. Aus Musikläden schallt knalliger russischer Pop oder traditionelle tadschikische Musik. In Restaurants und Bars sitzen Männer und trinken günstigen russischen Wodka oder süßen tadschikischen Wein. Abends tanzen in den wenigen schicken Clubs der Stadt Männer und Frauen gemeinsam auf der Tanzfläche. Das alles steht für die meisten hier nicht im Widerspruch zu ihrem Glauben, sie verstehen sich als Muslime, auch wenn sie Alkohol trinken und feiern.
Der Islamwissenschaftler Hussein Qalamdarf erklärt das so:
"Sie haben irgendwo gehört, dass Gott barmherzig ist und es einem verzeiht, wenn man Alkohol trinkt. Weil sie so wenig religiöse Bildung genossen haben, denken sie, es sei im Islam erlaubt, zu stehlen und zu trinken.”

Religiöse Lehre wurde verwässert und mit Aberglauben gemischt

Während der Sowjetzeit wurde der Islam systematisch unterdrückt. Wenn überhaupt wurde das religiöse Wissen in den Familien weitergegeben. Laut Hussein Qalamdarf wurde die islamische Lehre so verwässert und oft mit Aberglauben gemischt. Deshalb hätten viele Tadschiken auch heute noch ein sehr unorthodoxes Verständnis vom Islam.
Besonders gläubig sollen die Menschen hier im Süden des Landes sein, wo die Landschaft wüstenartig und gelblich wird, unweit der mehr als 1000 Kilometer langen Grenze zu Afghanistan. Woran man das festmachen kann?
Auf dem zentralen Markt Provinznestes Kulob frage ich eine ältere Kürbisverkäuferin, ob man hier Alkohol kaufen kann.
"Nein, nein! Ich selbst frage auch nicht danach, es ist riskant.”
Ich erfahre, dass Alkohol hier in Kulob nicht mehr verkauft werden soll, das sei unislamisch. Dass sich viele Tadschiken in Dushanbe als Muslime bezeichnen, aber trotzdem Alkohol trinken, kann diese Verkäuferin nicht verstehen.
Die Mittfünfzigerin trägt kein traditionell buntes tadschikisches Kopftuch, das im Nacken zusammengeknotet wird, sondern ein sogenanntes "islamisches Kopftuch” – also ein dunkles enggebundenes Tuch, wie man es aus der Türkei kennt. Präsident Emomali Rahmon, selbst Muslim, bezeichnet jedoch diese Form des "islamischen Kopftuchs” als "fremd”, weil es für einen importierten Islam stehe, der extremistische Züge habe.
Ladenbesitzer sollen deshalb laut unabhängigen Medienberichten angewiesen worden sein, diese schwarzen "islamischen Kopftücher" nicht mehr zu verkaufen. 160 Läden wurden nach Angaben der Polizei landesweit geschlossen. Und tatsächlich werden auf den Märkten wie auch hier in Kulob nur bunte tadschikische Kopftücher verkauft. Trotzdem tragen einige Frauen wie die Kürbisverkäuferin ein dunkles "islamisches Kopftuch". Warum will sie nicht sagen. Dass die Menschen hier in den letzten Jahren gläubiger geworden seien oder sich sogar radikalisiert hätten, hat sie nicht beobachtet.
Die wahre Gefahr sei nicht die Radikalisierung im Land, sondern die Bedrohung von außerhalb, durch die Taliban, sagt sie.
Die Frau nebenan, die fast keine Zähne mehr hat, aber trotzdem sehr freundlich lächelt, zeigt Richtung Süden, Richtung afghanischer Grenze. Nur rund 50 Kilometer von hier entfernt kämpfen die Taliban.
"Alle fürchten sich hier. Wir hoffen nicht auf die Polizei, dass sie die Grenze schützt. Wir hoffen auf Gott.”

Die Stadt Kulob gilt als Zentrum radikaler Strömungen

Parvis Mullahjunov sieht das anders. Gerade auch im Süden bestehe eine echte Gefahr, dass sich Tadschiken radikalisieren, sagt Mullahjunov, einer der wenigen unabhängigen Politikwissenschaftler. Seit Jahren beobachtet er salafistische Strömungen in Moscheen.
"Einige der Rekruten des Islamischen Staats kommen aus Kulob, so auch die Nummer zwei der Tadschiken in Syrien, er ist in Kulob in der Zentralmoschee gegangen.”
Die tadschikische Regierung weiß das. Und das Problem zeigt sich nicht nur im Süden, sondern auch im Rashttal im Osten Tadschikistans. Hier gab es die brutalsten Kämpfe während des Bürgerkrieges in Tadschikistan in den 1990er Jahren. Die islamische Opposition hatte hier ihre Hochburg im Kampf gegen die Gruppierungen um den späteren Präsidenten Rahmon.
Ausläufer des Pamirgebirges im Rashttal im Osten Tadschikistans
Ausläufer des Pamirgebirges im Rashttal im Osten Tadschikistans© Deutschlandradio / St. Rohde
Die Region ist mit ihrem tapetenartigen Kulissen von massiven Ausläufern des Pamir-Gebirges und reißenden Flüssen eine der schönsten Tadschikistans, aber auch eine der ärmsten. Viele Familien leben von Kartoffeln, Tomaten und Kürbissen aus dem eigenen Garten, weil sie sich auf dem Markt kaum noch etwas leisten können. In vielen Dörfern wird getauscht statt gekauft – Geld braucht man oft nur, um die Stromrechnungen zu bezahlen.

"Man hört immer wieder, dass jemand nach Syrien gegangen ist"

Auf den Feldern arbeiten häufig auch Frauen, viele Männer sind zum Arbeiten nach Russland gegangen. Aber seitdem Russland die Bedingungen für Arbeitsmigranten verschärft hat, häufen sich hier in der Gegend die Berichte über Männer, die von der Terror-Miliz IS rekrutiert wurden, erzählt eine Frau, die für eine Nichtregierungsorganisation mit vielen dieser Familien Kontakt hat.
"Man hört immer wieder, dass jemand nach Syrien gegangen ist und dort getötet wurde. Und die Frauen der Kämpfer müssen dann neu verheiratet werden, das ist Realität hier.”
Bislang sind laut der Regierung über 150 Tadschiken in Syrien getötet worden. Um zu verhindern, dass Männer überhaupt nach Syrien gehen, lässt die Regierung Moscheen mit Videokameras überwachen oder ganz schließen.
"Ich muss in die Moschee im nächsten Ort", sagt dieser Mann im abgewetzten grauen Jackett, der gerade in unser Auto eingestiegen ist. Seitdem die Moschee in seinem Dorf geschlossen wurde, muss er täglich per Anhalter zum Gebet. Es scheint ihm sichtlich unangenehm zu sein, über seine Moschee zu reden. Später stellt sich heraus, dass die Religionsbehörde die Moschee wegen vermuteter "extremistischer Aktivitäten" geschlossen hat, so wie mindestens 1500 andere Moscheen in Tadschikistan seit 2011. Parallel dazu hat sie bis Ende 2016 alle Koranschulen geschlossen.
Ich treffe einen der sogenannten "radikalen” Imame, die im Zuge der Anti-Radikalisierungskampagne durch regierungsnahe Geistliche ersetzt wurden. Weil er vom Geheimdienst überwacht wird und Angst vor Repressionen hat, findet unser Gespräch vor Sonnenaufgang statt, in einem privaten Taxi außerhalb von Dushanbe.
"Inzwischen gehen jeden Tag Menschen aus Tadschikistan nach Syrien”, erzählt der entlassene Imam aufgebracht, der noch immer seinen Turban trägt.
"Aus meinem Bezirk sind schon sieben Leute nach Syrien gegangen – und dem Anschein nach war ihre Lebenssituation gut, aber ihre politische Situation war schlecht. Weil sie religiös waren, standen sie sehr unter Druck."

Radikalisierung als Konsequenz der anti-religiösen Politik?

Dass viele Tadschiken arbeitslos seien und sich wegen des Gehaltes von angeblich mehreren tausend Dollar der Terror-Miliz IS anschließen, hält der Imam nicht für den entscheidenden Grund. Im Gegenteil, diejenigen Rekruten, die er kennt, seien Staatsbedienstete gewesen.
"Zum Beispiel waren es einige Polizisten, die eines Tages gemerkt haben, dass sie das Vorgehen der Polizei gegen die Religion nicht mehr mit ihrem Gewissen vereinbaren können."
Für den Imam ist die Regierung schuld daran, dass sich gemäßigte Tadschiken radikalisieren.
"Sie zwingen sie förmlich dazu, es ist die Konsequenz der anti-religiösen Politik. Wenn der Islam hier frei wäre, würde keiner mit gesundem Menschenverstand eine Waffe in die Hand nehmen."
Einer von den Rekruten aus der Moschee des Imams ist der inzwischen international bekannte Gulmorod Khalimov. Khalimov war Kommandeur der angesehenen OMON-Eliteeinheit, die dem tadschikischen Innenministerium untersteht. 2015 ist Khalimov öffentlichkeitswirksam zur Terror-Miliz IS übergelaufen.
In Videos ruft Khalimov seine tadschikischen Landsleute zum Dschihad auf – und droht damit, Tadschikistan zu überfallen.
Wie viele Tadschiken derzeit in Syrien für die IS-Miliz kämpfen, ist schwer zu sagen. Der unabhängige Extremismus-Experte Parvis Mullahjunov geht von rund 700 aus, andere Experten hingegen sprechen von 1500 bis 4000 tadschikischen Kämpfern.
Mullahjunov verweist darauf, dass 80 Prozent der Kämpfer nicht in Tadschikistan, sondern in Russland von der Terror-Miliz IS rekrutiert werden – auch, weil die Arbeitsmigranten dort unter sehr prekären Bedingungen lebten und einfache Ziele für die Anwerber seien.
Feldarbeiter und Esel in der Region Khatlon im Süden Tadschikistans an der Grenze zu Afghanistan
Feldarbeiter und Esel in der Region Khatlon im Süden Tadschikistans an der Grenze zu Afghanistan© Deutschlandradio / St. Rohde

Wer sind Salafisten, und wer nicht?

Aber auch in Tadschikistan bestehe das Problem weiterhin, meint Extremismus-Experte Mullahjunov, das liege auch daran, dass die Sicherheitsbehörden keine theologische Bildung hätten und nicht unterscheiden könnten, wer salafistische Propaganda betreibe und wer nicht:
"Es gibt salafistische Gruppen hier, die inoffiziell Moscheen kontrollieren – auch wenn die Regierung behauptet, sie hätten alle Moscheen unter Kontrolle. In einigen Moscheen sind noch Imame, die von den Salafisten instruiert werden.”
Aus einer Regierungs-Einrichtung des Präsidenten – dem Zentrum für strategische Studien heißt es von Sherali Rizoyev dazu:
"Es ist möglich, dass es Salafisten in Tadschikistan gibt, die weiter im Geheimen operieren. Das ist gefährlicher als wären sie offen.”
Zur Reaktion der Regierung meint Sherali Rizoyev:
"Natürlich geht die Regierung und die verantwortlichen Sicherheitskräfte aktiv dagegen vor, prophylaktisch und präventiv.”
Die Regierung habe auch Aufklärungsarbeit geleistet, in Schulen und Universitäten würden die Tadschiken über die Gefahren durch Islamisten aufgeklärt. Für Shokir Khakimov, den Vizevorsitzenden der außerparlamentarischen Sozialdemokraten, ist klar, dass die Regierung die Bedrohung bewusst überzeichnet.
"Sie machen das Problem größer als es ist, um die Freiheiten der Bürger einschränken zu können, damit die Bürger nicht gegen die Regierung protestieren.”
Dass der Staat die Religionsfreiheit der Bürger beschneidet, verneint der regierungsnahe Experte Rizoyev.
"Der tadschikische Staat legt Wert darauf, dass der Glaube der Bürger gesund bleibt und nicht extrem wird. Deshalb ist es richtig, die religiösen Bildungseinrichtungen einer staatlichen Kontrolle zu unterstellen. Nur unter staatlicher Aufsicht kann der traditionelle hanafitische Islam bewahrt werden.”
So begründet Rizoyev auch, warum die Regierung von Präsident Rahmon die einzige noch ernstzunehmende Oppositionspartei, die "Partei der Islamischen Wiedergeburt", 2015 verboten hat. Für den unabhängigen Extremismus-Experten Parvis Mullahjunov sei das ein fataler Fehler gewesen. Damit sei die Plattform für einen moderaten Islam im politischen System Tadschikistans weggebrochen. Dennoch hält Mullahjunov die geschätzt mehreren tausend Salafisten nicht für politisch oder militärisch gefährlich, denn:
"Die Bedrohung geht nicht vom Religiösen oder Politischen aus, sondern vom Wirtschaftlichen. Die einzige Chance der Salafisten ist eine Destabilisierung durch eine Wirtschaftskrise."

Die Hälfte der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze

Ein solches Szenario ist nicht unwahrscheinlich, meint auch der regierungskritische Journalist Saimuddin Dustov, dessen unabhängige Zeitung Nigoh im November 2016 auf politischen Druck hin schließen musste:
"Die Wirtschaftslage ist so schlecht wie seit 25 Jahren nicht mehr in Tadschikistan. Wir gehören zu den unterentwickeltsten Ländern der Welt. Die Hälfte der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze – und eineinhalb Millionen Menschen sind arbeitslos.”
Und das bei einer Bevölkerung von rund 8 Millionen Menschen. Die Salafisten könnten eine sich abzeichnende Wirtschaftskrise ausnutzen, um die Wut der Menschen zu kanalisieren.
Der Islamwissenschaftler Hussein Qalamdarf gibt zu bedenken:
"Wir haben es mit einer Generation zu tun, die vom Islam keine Ahnung hat, weder vom alten traditionellen noch vom neuen radikalen Islam."
Viele Tadschiken könnten den Salafisten und ihren Versprechen also aus Unkenntnis auf den Leim gehen. Damit hätte Präsident Rahmon genau das Gegenteil von dem erreicht, was er wollte: Der gemäßigte Islam wäre geschwächt, der radikale Islam gestärkt. (huc)