Tabubruch

Wenn die Mutter nach der Trennung auszieht

Eine junge Mutter steht mit gepackter Reisetasche an der offenen Wohnungstür. Sie verlässt ihre Familie.
Wenn eine Frau auszieht und die Erziehung dem Vater überlässt, gilt sie oft als Rabenmutter. © imago / Paul von Stroheim
Von Wibke Bergemann · 29.06.2015
Wenn ein Paar sich trennt, bleiben die Kinder meist bei der Mutter. Der Vater wird ganz selbstverständlich zum Wochenendvater. Eine Frau, die die Erziehung dem Vater überlässt, stößt auf viel Kritik. Das Mutterbild in Deutschland ist im Wandel - und unsere Erwartungen sind höher denn je.
"40 bis 50 Minuten fahre ich zu den Kindern. Und auf dem Rückweg habe ich die ganze Zeit die Berge im Blick. Von daher mag ich die Strecke sehr gerne, sie ist aber auch mit Schmerz verbunden. Wenn ich jetzt die Kinder wieder abgebe beim Papa und es läuft nicht so gut, dann brauch ich die 40 bis 50 Minuten, um zu Hause wieder anzukommen und das, ja, nicht mit nach Hause zu nehmen. Ich habe da so einen kleinen Riegel, die Autotür ist zu, und dann muss es auch durch sein, das ist so meine Technik."
Fast drei Stunden fährt Sonja Bartels jeden Montag und jeden Freitag, um ihre beiden Kinder für den Nachmittag zu sich zu holen. 40 Minuten hin und 40 Minuten zurück, und am Abend wieder das Gleiche: 40 Minuten hin, 40 Minuten zurück. Außerdem bleiben die Kinder jedes zweite Wochenende bei ihr.
Sonja Bartels ist eine Wochenendmutter. Eigentlich heißt sie anders, aber mit ihrem richtigen Namen möchte sie aus Rücksicht auf ihre Familie nicht genannt werden. Nach der Trennung von ihrem Mann vor sechs Monaten ist die 37-Jährige Steuerfachfrau zurück in die kleine bayrische Stadt gezogen, in der sie vor der Ehe gelebt und gearbeitet hat. Ihre beiden Töchter, vier und sechs Jahre alt, hat sie beim Vater gelassen.
"Als wir uns wirklich dafür entschieden haben - wir saßen am Tisch und haben entschieden, die Kinder bleiben bei ihm und ich ziehe aus - da habe ich mehrfach beim Essen an dem Abend rausgehen müssen, weil mir die Tränen runterliefen. Die saßen da und ich habe die angeschaut, und mir war klar, was wir gerade für eine Entscheidung getroffen haben. Ich glaube nicht, dass das bei den Männern anders ist. Die sitzen dann nicht da und den laufen nicht die Tränen runter. Aber ich bin mir sicher, dass es für die genauso schwer ist. Die sitzen auch beim Abendessen, schauen ihre Kinder an und denken, Mist, in zwei Monaten habe ich das nicht mehr."
In den allermeisten Fällen bleiben die Kinder nach einer Scheidung bei der Mutter. Dass ein Vater seine Kinder nur noch am Wochenende sieht, gilt als normal und wird nicht weiter in Frage gestellt. Entscheidet sich dagegen die Mutter dafür, auszuziehen und die Kinder beim Vater zu lassen, stößt sie zumindest auf Befremden. Unvorstellbar, meinen viele Frauen im Bekannten- und Kollegenkreis von Sonja Bartels.
"Es kommt wirklich sehr, sehr häufig: Ich könnte das nicht. Was irgendwie eine Unterstellung auch mit sich trägt. Ich könnte das nicht, du kannst das, was stimmt bei dir nicht? Das ist jetzt sehr überspitzt. Aber wenn man das sehr, sehr oft hört, kommt das schon so an."
Sonja Bartels hat sich angewöhnt, möglichst nicht drüber zu reden. Denn auch von Männern kommt Kritik. Manchmal ganz unerwartet, so wie vor kurzem in einem Gespräch mit einem Bekannten:
"Das geht einfach nicht, dass man als Mutter die Familie verlässt. Dass man nicht bei seinen Kindern bleibt. Es ist unnatürlich, dass Kinder beim Vater aufwachsen. Ich müsste das bereinigen. Wenn ich die Beziehung nicht kippen könnte, dann müsste ich zumindest die Kinder zu mir holen."
Eine Mutter, die ihre Kinder verlässt, dass passt nicht ins Bild. Als Sonja Bartels sich nach dem Umzug offiziell ummeldete, kam ein paar Wochen später ein Brief vom Bürgeramt: Ob das denn stimme, dass sie sich alleine ummelde?
"Das passiert sicherlich einem Vater nicht, dass er umzieht und sich anmeldet, und die Stadt ihn danach anschreibt, hey, ich sehe in deinem Datensatz noch zwei Kinder. Das kann doch wohl nur ein Fehler sein. Stimmt denn das, dass du die nicht mitgenommen hast? Daran merkt man, es muss so sein, die Kinder sind bei der Mutter. Und wenn das nicht so ist, dann muss man von Amts wegen mal einen Brief schreiben, ja."
Hin und wieder begleitet sie eine der beiden Töchter zum Beispiel zu einer Geburtstagsfeier, auch um die Mütter der anderen Kinder zu treffen. Die Leute im Dorf sollen sehen, dass sie noch da ist. Dass sie zwar ausgezogen ist, aber nicht ihre Kinder verlassen hat.
"Ich brauche auch die Sicherheit, dass mich nicht alle als Außerirdische wahrnehmen. Auch wenn ich mein Ding durchziehe, ist es mir nicht ganz unwichtig, was die anderen davon halten."
"Kluft zwischen dem eigenen Wunsch und dem, was gesellschaftlich wahrgenommen wird"
Für die Studie "Familienleitbilder in Deutschland" des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung wurden 5000 Frauen und Männer zwischen 20 und 39 Jahren befragt. Sabine Diabatè leitet die Studie:
"Wenn wir die Mutterleitbilder messen, haben wir gesehen, dass über 80 Prozent der Befragten sagen, Mütter sollten einem Beruf nachgehen, um unabhängig vom Partner zu sein. Gleichzeitig sagen aber auch 80 Prozent, dass Mütter nachmittags Zeit haben sollen, um ihren Kindern beim Lernen zu helfen. Das heißt, sie sollen beides, die Kindererziehung aber auch die Selbstsorge, die persönliche Weiterentwicklung im Job gleichzeitig verfolgen."
Das heutige Mutterbild ist zutiefst widersprüchlich, so ein Ergebnis der Studie. An junge Mütter werden Ansprüche gestellt, die sich gegenseitig eigentlich ausschließen. Gleichzeitig sind auch die Anforderungen an Väter komplexer geworden, doch bei weitem nicht im selben Maße.
"Sollte ein Vater eine Familie alleine ernähren können? Da gibt es immerhin noch rund ein Viertel der Befragten, die sagen ja, das muss ein Vater hinkriegen. Ein Großteil sieht aber nicht mehr nur den Ernährer im Vater. Wir sehen in unseren Daten, dass es als sehr wichtig erachtet wird, dass ein Vater sich um seine Kinder kümmert und beruflich sogar zurücksteckt für seine Kinder."
Doch es sind die Mütter, die in Teilzeit- und Minijobs arbeiten. Während die Zahl der vollzeitbeschäftigten Frauen in den vergangen zwei Jahrzehnten leicht zurückging, stieg die Zahl der Frauen in Teilzeitarbeit um 68 Prozent.
"Wir sehen eine Kluft zwischen der persönlichen Ebene, dem eigenen Wunsch und dem, was gesellschaftlich wahrgenommen wird. Und wir gehen davon aus, dass es einen hohen sozialen gesellschaftlichen Druck gibt auf Mütter, diesem gesellschaftlichen Leitbild zu entsprechen. Und das ist der Link zu der Stigmatisierung der Wochenendmutter."
Die Wohnung von Sonja Bartels. Eine komfortable Zwei-Zimmer-Single-Wohnung, sehr aufgeräumt. Wenn die Kinder kommen, schlafen sie im Doppelbett, Sonja Bartels weicht aus auf die Couch. Im Wohnzimmer gibt es im Regal ein Fach mit Spielsachen. Eine Legokiste steht in der Ecke. Und auf dem Esstisch liegen ein paar Buntstifte verstreut.
"Wenn wir ein wirklich sehr intensives Wochenende miteinander haben, dann ist es schon manchmal hart, in die wieder leere Wohnung zurückzukommen. Dann liegen da noch die Basteleien rum, die kann ich nicht aufräumen, die lasse ich dann manchmal bis mittwochs liegen. Dann liegt ein Legostein rum, den hebe ich erst auf, wenn ich staubsauge. Ich genieße das dann schon, dass die Wohnung so ausschaut, als wären hier Kinder vor Ort. Es gibt Tage da ist das leichter, und es gibt Tage, da ist das wesentlich schwerer."
Dann muss sie sich daran erinnern, dass sie sich auch zum Wohl der Kinder so entschieden hat. Sie hat ihnen erspart, zwischen den Eltern hin und her gerissen zu werden. Weil sie alleine ausgezogen ist, leben ihre Töchter weiter in dem großen Haus, statt in der engen Stadtwohnung. Sie sind in ihrer gewohnten Umgebung geblieben, wo sie das halbe Dorf kennen, wo sie ihre Freunde im Kindergarten haben und auch bald in der Schule. Sie führen ihr gewohntes Leben weiter – wenn auch ohne die Mutter. Dabei waren bis zur Trennung die Rollen ganz klassisch verteilt, Sonja Bartels blieb als Vollzeitmutter zu Hause, während ihr Mann auf der Karrierespur Überstunden und Dienstreisen machte.
"Also im ersten Moment bin ich ganz selbstverständlich davon ausgegangen, ich nehme die Kinder mit. Weil, er kann ja gar nicht. Er arbeitet ja Vollzeit. Wie hätte er das denn überhaupt organisatorisch machen sollen? Es war für mich überhaupt keine Frage, ich habe ihn noch nicht einmal gefragt. Bis er dann gefragt hat, was ist denn, wenn ich möchte, dass die Kinder bei mir bleiben?"
Die Beiden waren sich einig, dass sie nicht um die Kinder streiten wollten, schon gar nicht vor Gericht. Der Vater bot an, auf eine halbe Stelle runterzugehen. Für Sonja Bartels eröffneten sich neue Möglichkeiten. Statt als alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern und hohem Armutsrisiko in einer kleinen Wohnung zu sitzen, kehrte sie mit einer 30-Stunden-Stelle in ihren alten Beruf zurück.
"Dadurch, dass die Kinder bei meinem Mann bleiben, kann ich wesentlich mehr arbeiten, was mir durchaus Rentenpunkte und Sicherheiten verschafft, die ich sonst nicht gehabt hätte, und das macht es wesentlich entspannter. Und deswegen ist mir das auch besonders wichtig, dass wir uns miteinander gut organisieren und er nicht die ganze Last trägt. Ich weiß nicht, wie es umgekehrt gewesen wäre. Ob er die Zeiten so in Anspruch genommen hätte, wie ich es nehme. Von daher war das durchaus zu überlegen, als sein Angebot kam."
Sonja Bartels fährt auch mal ins Dorf, um an einem Elternabend teilzunehmen, oder um auf die Kinder aufzupassen, wenn der Vater einen wichtigen Termin hat. Sie und ihr Ex-Mann seien jetzt getrennt erziehend. Das sei ein passenderer Ausdruck als "alleinerziehend".
Ringen mit dem traditionellen Bild der fürsorglichen Mutter
In den Buchhandlungen reihen sich die Ratgeber für Eltern. Beim Online-Buchhändler Amazon werden sogar über 26.000 Titel in der Kategorie Ratgeber Kinder angeboten. Der Wunsch, eine gute Mutter zu sein, könnte einen zum Beispiel nach dem Buch "Kinder gezielt fördern" von Cornelia Nitsch und Gerald Hüther greifen lassen. Unter der Überschrift "Eltern sein: auch das ist programmiert" erfährt die Leserin:
"Sogar bei Tieren ist die spätere Fähigkeit, eine gute Mutter zu sein, nicht genetisch bedingt. Entscheidend ist viel mehr, ob ein weibliches Tier, also etwa ein Kaninchen selbst von einer 'guten' oder 'weniger guten' Mutter aufgezogen wurde. Das heißt: Welche Qualität und Intensität hatte die Beziehung der Kaninchenmutter zu ihren Jungen? Wie sorgfältig hat sie das Nest vorbereitet und instand gehalten, wie oft die Jungen abgeleckt? Wie gut hat sie die Kleinen beschützt – und wie sehr hat sie sie später ermutigt, sich in die Welt hinauszuwagen?"
Kaninchen bzw. die eigene Mutter also als schicksalhaftes Vorbild? Immerhin: Die "gute" und die "weniger gute" Mutter sind in dem Abschnitt in Anführungsstriche gesetzt. Zu der guten Mutter gab es immer auch das Gegenbild, die schlechte Mutter, die Rabenmutter. Solche Zuschreibungen zeigten sich etwa im Skandal um die Schauspielerin Ingrid Bergmann, die Roberto Rossellini nach Hollywood folgte und ihre Tochter bei ihrem ersten Ehemann in Schweden zurückließ. Oder bei Joan Crawford, die glamouröse Film-Diva, die ihre Kinder misshandelt haben soll.
"Diese Figuren, die in der Literatur auftauchen, in Filmen, in Skandalgeschichten, die also immer wieder historisch präsent sind, die schlechten Mütter, die sagen viel darüber aus, wie sich eine Gesellschaft, die gute Mutterschaft eigentlich vorstellt. Diese bösen, falschen, schlechten Mütter sind deswegen so interessant, weil sie uns zeigen, wie wir uns die gute Mutter vorstellen. Und eine Figur gescheiterter Mutterschaft ist immer wieder die, die ihre eigenen Bedürfnisse, oder ihre Lust gar über die der Kinder stellt. Das ist eine schlechte Mutter in der Moderne, nämlich die, die sich selbst wichtiger nimmt als ihre Kinder."
Die Idealmutter ist heute eine Projektleiterin, die die optimale Förderung ihrer Kinder organisiert, sagt die Münchner Soziologin Paula-Irene Villa. Hausaufgaben, Nachhilfestunden, Sportvereine, außerschulische Lernkurse, Musikunterricht – in den meisten Fällen trägt dafür die Mutter die Hauptverantwortung.
"Heute in der Bundesrepublik ist Mutterschaft, ist Familie, Elternschaft zumindest in vielen Milieus immer mehr ein Projekt; so wie man selbst, so wie die Arbeit, wie der Körper, so wie eben auch die Familienplanung wird zu etwas, das nicht einfach passiert, sondern etwas was wir möglichst autonom, wohl überlegt, maximal effektiv gestalten, als Projekt angelegen wollen. So ist auch zunehmend Elternschaft."
Frauen bestimmen heute, ob sie ein Kind bekommen, wann sie es bekommen, und mit wem. Die Entscheidung, ein Kind zu bekommen, wird zunehmend aufgeschoben. Frauen sind mittlerweile bei der ersten Geburt durchschnittlich 29 Jahre alt. Wer sich dazu entschließt, fühlt eine umso größere Verantwortung dem Kind gegenüber.
"Die Erwartung ist, dass Mutterschaft natürlicherweise etwas ist, was nie auf hört, was keine Pause kennt, und bei der es im Idealfall so ist, dass Mütter immer mit ihren Kinder zusammen sein wollen. Und dieser Erwartung, diesem Ideal entsprechen Mütter nicht, die nur teilweise bei ihren Kindern sind."
Vor zwei Monaten löste die Studie der israelischen Soziologin Orna Donath über bereuende Mütter eine aufgeregte Debatte aus. Eine Mutter, die wünscht, sie hätte ihre Kinder nicht bekommen, kommt einem Tabubruch gleich. Die positiven Reaktionen in Internet-Blogs und sozialen Netzwerken lesen sich wie eine Befreiung: endlich klare Worte, dass nicht für jede Frau in der Mutterschaft die Erfüllung liegt. Auf der anderen Seite reagieren vor allem Frauen mit Empörung und werfen den bereuenden Müttern Gefühlskälte und Egoismus vor. Doch warum schlug die kleine Studie hierzulande so hohe Wellen, während sie in Israel selbst kaum beachtet wurde? Offenbar ringen wir mit unserem traditionellen Bild der fürsorglichen Mutter, das in vieler Hinsicht nicht mehr zusammenpasst mit dem Bild einer unabhängigen Frau, die ihr eigenes Leben führt.
"Weil wir in Bezug auf Mutterschaft eine ganz starke Gleichzeitigkeit von Exklusion - also Ausschluss etwa von der Erwerbssphäre und dem Monetären, das wird nicht bezahlt etc. - also einen Statusverlust einerseits, andererseits so eine extrem romantisierte Überhöhung…; ja, das ist ja so eine mythische Figur, Mutter sein, und ob man das auch Status nennen will, wie man beneidet wird, wie man adressiert wird, wie einem unterstellt wird, wie toll es jetzt sei als Mutter. Und diese Gleichzeitig von Abwertung und Aufwertung, die ist sehr paradox."
Psychoanalyse beschäftigte sich mit der Beziehung zwischen Mutter und Kind
Sogar im Bürgerlichen Gesetzbuch wird der Mutterschaft eine besondere Bedeutung eingeräumt. Eine Mutter erlangt automatisch das Sorgerecht für ihr Kind. Ihre Mutterschaft ist biologisch durch die Geburt bestimmt. Dagegen ist aus rechtlicher Sicht die Vaterschaft sozial verhandelbar.
Bürgerliches Gesetzbuch § 1592: "Vater eines Kindes ist der Mann, der zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter des Kindes verheiratet ist, der die Vaterschaft anerkannt hat oder dessen Vaterschaft gerichtlich festgestellt ist."
Unser Mutterbild sitzt so tief in uns, weil es Jahrhunderte alt ist. Die Soziologin Yvonne Schütze ist der historischen Entwicklung dieses gesellschaftlichen Idealbildes nachgegangen. Noch im 18. Jahrhundert hatte eine bürgerliche Frau andere Pflichten, als die Kinder großzuziehen.
"Da kommt es im 18. Jahrhundert ziemlich häufig vor, dass die ihre Kinder auch anderen gegeben haben, also kinderlosen Verwandten. Die hatten keine, und die anderen hatten so viele. Und dann haben die gesagt, dann haben die es da doch viel besser. Oder der Vater hatte einen Beruf, bei dem er viel reisen musste. Da ist die Mutter einfach mitgereist, und die Kinder sind bei fernen Verwandten geblieben. Das wird auch gar nicht thematisiert als lieblos oder sonst was. Weil den Frauen noch viel mehr zufiel eine gute Gattin zu sein als eine gute Mutter."Unser Mutterbild sitzt so tief in uns, weil es Jahrhunderte alt ist. Die Soziologin Yvonne Schütze ist der historischen Entwicklung dieses gesellschaftlichen Idealbildes nachgegangen. Noch im 18. Jahrhundert hatte eine bürgerliche Frau andere Pflichten, als die Kinder großzuziehen.
Doch Ende des 18. Jahrhunderts entdeckt die Aufklärung die bürgerlichen Frauen und nimmt sie in die Pflicht. Pädagogen wie Pestalozzi und Ärzte wie Hufeland ermutigen die Mütter, Verantwortung in der Erziehung zu übernehmen, und unterweisen sie darin, wie sie ihren Mutterpflichten nachzukommen haben. Sie sehen in einer "natürlichen, angeborenen Mutterliebe" die wichtigste Kraft, die Entwicklung des Kindes zu fördern. Die neuen Aufgaben werten die bürgerliche Frau auf und binden sie zugleich fest an Familie und Haushalt.
"Ich habe ja nicht über Mutterliebe geschrieben, sondern über die Normen von Mutterliebe, und die gingen mir auf den Keks. Also, was alles Müttern vorgetragen wird. In den 20er-Jahren wurde das Kind alle vier Stunden gestillt oder gefüttert. Wenn man davon abwich, war das des Teufels. Und dann wechselt das eines Tages. Immer das, was gerade sozusagen Mode war, wurde gepriesen und die anderen Sachen wurden verworfen."
Auch die Psychoanalyse beschäftigte sich von Anfang an mit der Beziehung zwischen Mutter und Kind, und den Folgen für die Entwicklung des Kindes. In den 60er-Jahren entstand die Bindungstheorie, die bis heute unsere Vorstellung prägt, wie wichtig eine stabile und gesunde emotionale Bindung zwischen Mutter und Kind ist, welche Folgen langfristig eine unsichere Bindung für die Entwicklung des Kindes hat. Zwar geht die neuere Forschung davon aus, dass ein Kind auch zum Vater und anderen Personen eine zentrale Bindung aufbauen kann. Doch hängengeblieben ist das Ideal der Mutter, die sich nicht nur um das körperliche Wohl des Kindes bemüht, sondern auch durch eine sichere emotionale Beziehung ihr Kind psychisch optimal fördert. Sie ist feinfühlig und reagiert immer schnell und vor allem angemessen auf die Bedürfnisse des Kindes.
"Da wird ein Bild entworfen von einer Mutter, und der Winnecott nennt sie ja die ordinary devoted mother. Das heißt, die normal hingebungsvolle Mutter. Das ist noch nicht mal eine Übermutter. Aber diese normal hingebungsvolle Mutter leistet etwas, was man eigentlich gar nicht leisten kann, weil es die ganze Person fordert. Und dieses, dass die ganze Person gefordert wird, durch das Kind, das wird immer weiter tradiert bis auf den heutigen Tag."
"Völlig unterschätzt, was Verletzung ist, Verlassen werden"
Karen Dörffler:
"Ich hatte immer das Gefühl, ich müsste so eine Rollenerwartung erfüllen und spürte aber, da fehlt mir was. Das hat gar nichts mit dem Kind zu tun oder mit der Liebe, sondern damit, dass man das nicht in so einer traditionellen Weise leben möchte. Wo das auch klarer ist, dass man als junge Mutter natürlich auch draußen ist, und einen Partner hat, der einem die Möglichkeit gibt, Dinge zu tun, wo man das Kind nicht dabei haben kann, vor dem Bauch."
Karen Dörffler - auch dies ein Pseudonym – beendete die unglückliche Beziehung und verließ ihren Mann. 32 Jahre ist das jetzt her. Die heute 59-Jährige erinnert sich: Nach der Trennung wollte sie einfach nur weg aus Berlin und kam zunächst bei ihren Eltern in München unter. Die kleine Tochter, gerade mal ein Jahr alt, nahm sie kurzer Hand mit.
"Die Sachlage war ja einfach ein großes Nicht-Einverständnis über die Trennung, das war mein Wunsch, nicht seiner. Also, da gab es gar keine Gesprächsbasis, auch nicht über eine andere Form, zwei Wohnungen auf einer Etage oder… - nichts. Und ich fühlte mich aber als die Räuberin des Kindes."
Das schlechte Gewissen lässt sie nach Berlin zurückkehren, wo der Vater lebt. Jetzt ist die Tochter unter der Woche bei ihr, am Wochenende beim Vater. Doch das Verhältnis zwischen Karen Dörffler und ihrem Mann bleibt äußerst angespannt. Zudem bleibt ihr wenig Zeit, sich um die Tochter zu kümmern. Sie versucht, sich mit Putzjobs über Wasser zu halten, ihr Studium hatte sie vor der Geburt des Kindes abgebrochen.
"Ich hatte für mich selbst überhaupt keinen Boden unter den Füßen. Ich war immer von irgendwelchen Umständen abhängig, die ein wirklich wortwörtlich materielles Überleben möglich machten. Ich hätte ja zum Beispiel gar nicht die Möglichkeit gehabt, zu sagen, das ist hier zu turbulent. Das packt die Kleine gar nicht."
Als eine Freundin ihr anbietet, zu ihr in ein Haus auf dem Land bei Hamburg zu ziehen, scheint das die Gelegenheit, die täglichen Streitereien mit dem Vater zu beenden. Doch das Gezerre um die Tochter hört nicht auf. In den Ferien lädt sie den Vater ein, zehn Tage im Haus mit der Tochter zu verbringen. Sie selbst packt für die Zeit die Koffer. Als sie nach zehn Tagen zurückkommt, sind Vater und Tochter weg. Auf dem Küchentisch liegt eine Nachricht: Die Tochter werde jetzt ein Weile bei ihm Ferien machen.
"Ich war am Boden zerstört und ging zu einem Anwalt. Der ließ mich erstmal eine Weile weinen und sagte dann diesen Satz: Sie sind verheiratet, ihnen steht beiden gleichermaßen das Sorgerecht zu. Jedes Gericht wird immer im Sinne der Kontinuität für das Kind entscheiden. Also, junge Frau, bringen Sie sich in den Besitz des Kindes. Und da, pfff, sind bei mir alle Sicherungen durchgebrannt. Da bin ich innerlich aus diesem Ziehen und Zerren um das Kind schon total ausgestiegen. Und da ist das so umgekippt, dass ich dachte, ok, die Trennung ging von mir aus, ich wollte das. Dann muss ich wohl diesen Preis bezahlen."
Karen Dörffler entscheidet sich loszulassen, den Kampf um das Kind aufzugeben. Sie sieht keinen anderen Weg, aus der Beziehung mit ihrem Ex-Mann herauszukommen. Am Ende überlässt sie ihm bei der Scheidung sogar freiwillig das alleinige Sorgerecht.
"Weil ich dachte, das wäre der Weg, wo am ehesten Ruhe im Karton ist, und die Verhältnisse klar, und etwas Entspannteres wieder entstehen kann. Habe aber völlig unterschätzt, was Verletzung ist, Verlassen werden. Und wie lange das dauert."
Die Tochter bleibt beim Vater, nicht nur die nächsten Monate, sondern die nächsten Jahre. Sie wächst in Berlin auf, während ihre Mutter in Hamburg bleibt und eine Ausbildung zur Masseurin macht. Karen Dörffler erinnert sich daran, wie sie damals den Fehler machte, ihren Kollegen von ihrer privaten Situation zu erzählen.
"Und die Kleine lebt jetzt beim Vater? Durch die Art, wie die das gesagt haben, haben sie einfach klar gemacht, dass das für sie ein absolutes No-Go ist. Na, die erwischten mich natürlich bei meinem eigenen inneren Urteil über mich, nämlich: doppelt gescheitert. Auf der ganzen Linie gescheitert."
Karen Dörffler kramt nach Fotos aus der Zeit. Es gibt Bilder von einem strahlenden kleinen Mädchen, auf anderen blickt die Tochter sehr ernst.
"Die anderen sind dann solche. Da kann natürlich irgendwas gewesen sein, das kann ja ganz schnell mal sein, dass ein Kind so schmollig und traurig guckt. Aber wenn du dein Kind nur drei oder vier Mal im Jahr siehst, ist das so eine Zustandsaufnahme. Also, solche Bilder haben mich immer verfolgt."
In ihrem Hamburger Leben versucht sie, ihre Tochter soweit wie möglich zu verdrängen. Gegenstände, die an das Kind erinnern, räumt sie aus dem Blickfeld. Dennoch hält sie den Kontakt aufrecht. Sie telefonieren viel. Und alle zwei bis drei Monate fährt sie nach Berlin, um ihre Tochter zu besuchen, auch wenn es weh tut.
"Das war immer ein ziemlicher psychischer Aufwand für alle Beteiligten. Die Aufregung vorher und hinterher eine Woche halb krank. Ach, und dieses Kind! Die haben mich dann oft zum U-Bahnhof gebracht. Und sie immer auf seinem Arm, hoch rotes Köpfchen, hektisches Wegwinken. Da gab es natürlich oft Situationen, wo ich dachte, ich mach das einfach nicht mehr, gar nicht mehr."
Aber Karen Dörffler macht weiter. Sie hält an den regelmäßigen Treffen mit ihrer Tochter fest, weil sie weiß, wie wichtig sie sind, für das Kind und sie selbst. Auch als sie zehn Jahre später mit einem neuen Mann noch einmal eine Familie gründet und zwei Kinder bekommt, lässt sie den Kontakt nicht abbrechen. Jetzt ist es die Tochter, die in den Ferien zu ihr kommt. Auf den Fotos ist sie zu sehen, wie sie mit ihren kleinen Schwestern spielt.
"Das ist auch genuin entspannt. Da fühlt sie sich auf keinen Fall zurückgesetzt. Da gibt es so ein anderes, da liegt sie im Bett und hat Magenschmerzen und ist ganz elend. Da ist sie nur so am Rande da."
Immer wieder plagen sie Sorgen und Zweifel, ob ihr Ex-Mann seiner Rolle als alleinerziehender Vater gerecht wird.
"Also damals war ich nicht so überzeugt davon, ob das so gut ist und ob das so gut läuft. Aber mein Blick hat sich über die Jahre verändert. Ich meine, jetzt sehe ich natürlich auch, was für ein wunderbarer Mensch sie ist, meine Tochter, (lacht), in keinster Weise verbogen. Dann kann er das ja alles nicht so schlimm und schlecht gemacht haben."
Die Tochter ist inzwischen erwachsen. Heute pflegen alle - die Halbschwestern, Karen Dörffler, ihr Ex-Mann und die jeweiligen neuen Partner - ein entspanntes, freundschaftliches Verhältnis. Und trotzdem, ein zweites Mal würde Karen Dörffler nicht mehr loslassen, sagt sie, und wenn sie dafür das Kind nach Südamerika entführen müsste.
"Ich würde das nie, nie, niemals wieder so blauäugig entscheiden!"
Das Gleichgewicht bleibt eine Herausforderung
Auch Sonja Bartels kämpft mit der Angst, dass sie ihre Kinder verlieren könnte. Was wird passieren, wenn einer der beiden einen neuen Partner hat? Wenn eine neue Frau ins Haus einzieht, mit der sich auch die Kinder gut verstehen? Könnte sie die leibliche Mutter verdrängen?
"Ich habe so diesen Angstgedanken, dass irgendwas passiert und gegen mich verwendet wird und ich dann keinen Kontakt mehr zu denen haben darf. Daran würde ich wirklich kaputt gehen. Das ist so ein ganz großer Angstfaktor, dass von außen interveniert wird und die dann sagen, nee Mama, mit dir will ich keinen Kontakt mehr haben. Das würde mir das Genick brechen. Damit könnte ich überhaupt nicht umgehen."
Das Gleichgewicht, das Sonja Bartels und ihr Ex-Mann gefunden haben, bleibt eine Herausforderung.
"Dass man nach der Trennung eine Lösung findet, die genauso gut ist, wie vor der Trennung, das gibt es nicht. Von dem Gedanken muss man sich verabschieden. Man kann versuchen, eine gute Lösung zu finden. Ich sage auch nicht, dass die Lösung, die wir jetzt gefunden haben, die beste ist. Es bleibt eine Lücke zurück. Die haben ihre Mama nicht mehr sieben Tage. Da mache ich mir nichts vor, es ist nicht mehr so wie vorher."
Sonja Bartels hat inzwischen andere Frauen kennengelernt, die sich in einer ähnlichen Situation befinden. In sozialen Netzwerken tauscht sie sich mit anderen Wochenendmüttern aus. Nach einem Interview, das bei einer befreundeten Bloggerin erschien, hat sie viel Zustimmung erhalten. Sonja Bartels weiß jetzt: Sie ist nicht allein.
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