Systeme und Bewegungen

Wenn Revolutionäre zu Diktatoren mutieren

Lenin-Denkmal in Moskau
Lenin-Denkmal in Moskau: "Nach dem Sozialismus stärkte sich der Mix aus Nationalismus, Islam, antijüdischen und antiamerikanischen Haltungen..." © picture alliance / dpa / Foto: Yuri Kochetkov
Von Lutz Rathenow · 27.05.2015
Was haben Sozialismus und Fundamentalismus gemein? Mehr als es auf den ersten Blick scheint, sagt Lutz Rathenow. Beide lockten mit der Utopie einer besseren Welt, argumentiert der Sächsische Landesbeauftragte für Stasi-Unterlagen.
Es war einmal, kurz vor der Friedlichen Revolution 89 in der DDR. Da tauchten in der ostdeutschen Parteipresse merkwürdige Meldungen auf. Die Sozialistische Volksrepublik Südjemen verwickelte sich mit der arabisch-islamischen Republik im Norden in militärische Auseinandersetzungen. Ein alter Bürgerkrieg aus den siebziger Jahren drohte aufzuflammen.
Damals unterstützte Saudi-Arabien den Norden, der Süden bekam Hilfe durch die Sowjetunion, die DDR und Kuba. Die DDR soll den Sicherheitsapparat der Volksrepublik Jemen aufgebaut haben. Im "Neuen Deutschland" stand eines Tages sinngemäß: Man hoffe, dass die Kämpfe aus Mangel an Munition zum Erliegen kämen. Da kapitulierte ein Weltgestaltungsanspruch ziemlich kleinlaut.
Der Ostblock suchte Verbündete
Sozialistische Ideen spielten nach dem zweiten Weltkrieg in Arabien immer wieder eine Rolle. Sie verhießen eine gerechtere Welt mit besseren Lebensverhältnissen. Der Ostblock versuchte, nacheinander Ägypten, Sudan, Somalia, Äthiopien, Algerien oder eben den Südjemen als Verbündete zu gewinnen.
Es war eine ostblockinspirierte erste Arabellion, die sich mit Diktatoren verbündete oder aus Clan-Zusammenhängen stammenden Revolutionäre zu Diktatoren mutieren ließ. In Libyen, Syrien und Irak funktionierten solche Regime lange Zeit, noch heute verteidigt Assad in Syrien – von Russland unterstützt – verbissen und brutal seine Macht.
Warum hat hier die Demokratie als Vorbild, als Orientierung kaum eine Chance? Weil die europäische Aufklärung fehlte? Nicht nur!
Weil die einzige funktionierende Demokratie in diesem Raum Israel darstellt und der arabische antijüdische Konsens jeden positiven Einfluss dieses Staates blockiert. Weil Israels machtauftrumpfende Außenpolitik zwar Gründe hat, aber auch in der Bevölkerung der Nachbarländer Hass und Minderwertigkeitskomplexe wachsen lässt, die vielleicht vom Größenwahn der IS-Terroristen kompensiert werden können. Zumal die auch soziale Grundversorgung im Repertoire haben: Junge Frauen werden im Netz mit kostenlosem Wohnraum und geschenkten Konsumartikeln gelockt, einen Kämpfer gibt es als Ehemann gleich dazu.
Kein Sieg für den Westen
Nach dem Sozialismus stärkte sich der Mix aus Nationalismus, Islam, antijüdischen und antiamerikanischen Haltungen mit viel Empörungsbereitschaft gegen den Westen. Afghanistan bündelte nur die Erfahrung einer umfassenden Niederlage für den Sowjetsozialismus, die kein wirklicher Sieg für den Westen wurde. Auch sie verstärkte schon das Vakuum an sozialen und politischen Hoffnungen. Der fanatisierte Fundamentalismus mit scheinbar islamischem Antlitz wirkte seitdem in dieses hinein und erhielt von 1989 bis 1992 den entscheidenden Auftrieb.
In Russland versucht Putin das entstandene Sinnloch mit seiner Orthodoxen Kirche zu stopfen, damit die realsozialistischen Erlösungsträume nicht durch islamistische – wie zum Teil schon in Tschetschenien – abgelöst werden.
Ganz weit war die verordnete Emanzipation von oben im Süd-Jemen fortgeschritten. Teile des DDR-Familiengesetzes wurden damals eingeführt: Eine Schriftstellerin berichtet: Unmittelbar nach der Revolution gab es öffentliche Schleierverbrennungen, das Tragen des Schleiers wurde unter Androhung von sechs Monaten Haft untersagt. Das ist lange vorbei und ganzkörperverhüllte Frauen klagen heute über die schrecklichen Folgen des ganz neuen Krieges.
Wo der Einfluss sozialistischer Staaten intensiv wirkte (Syrien, Irak, Libyen) sind die Bürgerkriegskämpfe heute besonders zäh. Auch im Jemen.

Lutz Rathenow wurde 1952 in Jena geboren, lebte bis zum Mauerfall in Ost-Berlin, heute in Dresden und Berlin. Lyriker, Kurzprosaschreiber, Kinderbuchautor, Kolumnist, Gelegenheitsdramatiker, Nachrichtenübermittler. Flanierte zwischen politischer und subkultureller Opposition in Berlin. Kurze Zeit wegen des ersten Buches inhaftiert. Seit 2011 Sächsischer Landesbeauftragter für Stasi-Unterlagen. Am erfolgreichsten: "Ostberlin – Leben vor dem Mauerfall" (mit Fotos von Harald Hauswald), Neuausgabe Jaron 2014).

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