"System der organisierten Verantwortungslosigkeit"

Wolfgang Engler im Gespräch mit Katrin Heise · 13.07.2009
In den 1970er Jahren hat der Soziologe Wolfgang Engler in der DDR seine Erfahrungen mit einem System der Lüge gesammelt. Der Staatssozialismus sei ein "System der organisierten Verantwortungslosigkeit" gewesen, so Engler. Dieses Diktum sei bezogen auf die jetzige Krise des Kapitalismus "erschreckend" aktuell.
Katrin Heise: Wenn ein Intellektueller aus der DDR wie der Soziologe Wolfgang Engler über Lüge als Prinzip nachdenkt, dann fällt einem natürlich sofort der real existierende Sozialismus ein, in dem die Lüge Teil des Systems war. Wenn Engler dann im Untertitel seines Buches ein Nachdenken über die "Aufrichtigkeit im Kapitalismus" ankündigt, dann wird man doch neugierig auf den Umgang mit der Wahrheit, den er im Kapitalismus kennengelernt hat. Also um Lüge und Aufrichtigkeit in beiden Systemen soll es jetzt gehen. Dazu begrüße ich den Autor zahlreicher Veröffentlichungen gesellschaftlicher Betrachtungen im Osten und im Westen und außerdem Rektor der Schauspielschule Ernst Busch hier in Berlin. Ich heiße Sie herzlich Willkommen, Wolfgang Engler!

Wolfgang Engler: Gleichfalls, danke für die Einladung!

Heise: Der wirtschaftliche Absturz des letzten Jahres, der wurde ausgelöst durch das Platzen der sogenannten Spekulationsblase, das war ein einziges Lügengebäude, da lag sozusagen die Aufrichtigkeit des Kapitalismus ja klar auf dem Tisch, oder?

Engler: Das muss man sagen, das war auch der Punkt, der mich dazu veranlasst oder mich ermutigt hat, ein ursprünglich historisch angelegtes Studium über Lüge und Aufrichtigkeit im 17., 18. Jahrhundert in die Gegenwart weiterzuführen.

Heise: Einer der häufigsten gebrauchten Begriffe im letzten Jahr war Vertrauensverlust. Vertrauen in ein Unternehmen ist absolut notwendig, hören wir auch immer wieder. Grundvoraussetzung für Vertrauen ist natürlich Aufrichtigkeit. Wie konnte es eigentlich zu diesem Typus von Finanzjongleur kommen, für den Aufrichtigkeit nicht unbedingt ein erstrebenswertes Gut zu sein scheint?

Engler: Das hängt schon, wenn man es knapp sagen will, vor allem mit einer Veränderung in diesem modernen Kapitalismus der letzten zwei, sagen wir vielleicht auch drei Jahrzehnte zusammen, nämlich damit, dass die Akteure von den oberen Positionen bis ganz hinunter, also bis zum Schalterbeamten mit Kundenverkehr einer Bank, in viel höherem Maße, als das früher der Fall war, in die Interessen des Unternehmens selber verstrickt worden sind, also dazu angehalten wurden, gewissermaßen den Blick des Unternehmers als eigenen Blick in die Welt zu werfen.

Und dann ist es natürlich für jemanden, der als ein leitender Manager einen Großteil seiner Einkünfte in Form von Aktienoptionen oder Boni realisiert oder ein Bankbeamter mit Kundenverkehr, für den das in anderer Weise natürlich nicht im Umfang, aber in der Sache nach auch zutrifft, oder eine Ratingagentur, die eine Hand in den Geschäften jener Unternehmen hat, die sie bewertet, dann haben wir diffuse Interessen und die Neigung, Risiken auf die Umwelt abzuwälzen, auf den Geschäftspartner, auf den Kunden, auf den Endverbraucher, sie zu verpacken, auf die Reise zu schicken, bis eigentlich niemand mehr durchsieht.

Heise: Weil keiner wirklich verantwortlich ist?

Engler: Genau. Im Grunde, ich habe es … Es gab einen ungarischen Soziologen, der in den 1970er-Jahren in Bezug auf den Staatssozialismus das wunderschöne Wort vom System der organisierten Verantwortungslosigkeit geprägt hat. Und das fand ich mit einmal erschreckend aktuell, muss ich sagen.

Heise: Jetzt haben Sie aber selber das Stichwort gegeben, zum Sozialismus übergehend. Sie beschäftigten sich ja schon zu DDR-Zeiten mit dem Thema Lüge und Aufrichtigkeit, durchaus im historischen Sinne, aber natürlich, denke ich auch, mit dem Sinn ihrer Gegenwart. Was bedeutete Aufrichtigkeit in einem Staat, in dem die Stasi, in dem Überwachung, in dem, ja, Lug und Trug eigentlich allgegenwärtig war?

Engler: Ich glaube, dass die Tugend, um eine solche handelt es sich ja bei der Aufrichtigkeit, in dieser Gesellschaft und in Gesellschaften dieser Art natürlich viel mehr gefragt war. Es war in gewisser Weise eine Frage des Lebens und Überlebens, dass man relativ sicher war, auch in der Lesbarkeit der anderen, wer ist Freund und Feind, wer spielt sozusagen eine Rolle als U-Boot in den privaten, es ging ja bis in die privaten Beziehungen, nicht nur in den beruflichen, da war man einigermaßen geschützt auch durch eine Rolle, aber es ging ja bis in die privaten Beziehungen, bis in die Schlafzimmer.

Und da zu unterscheiden zwischen dem und dem, das war wichtig, und natürlich auch schwierig, weil die Aufrichtigkeit ist eine vertrackte Tugend. Man kriegt nie genau heraus, also mit hundertprozentiger Sicherheit – sonst wär’s ja auch ein Kinderspiel, das soziale Leben –, wer verstellt sich, wer sagt die Wahrheit, wer spielt ein doppeltes Spiel. Man kann sich der Wahrheit nähern, und diese Lesefähigkeiten wurden in dieser Gesellschaft besonders geschult, auch auf die Probe gestellt, das darf man schon sagen. Aber es bleibt ein Rest Unsicherheit, und das macht natürlich das Leben auch spannend – verletzlich, aber auch spannend.

Heise: Und dann gab es aber noch den großen Bereich der Kommunikation, und ich denke, da war ja also da eben auch Meisterschaft darin, alltägliche Siegesmeldungen und so weiter, eine Kommunikation zu betreiben, die aber auch doch keiner mehr so richtig ernst genommen hat, niemand glaubte denen, den Mächtigen sozusagen. Was bedeutete denn das im Verhältnis zum Staat, also wieder Vertrauen, Stichwort Vertrauen?

Engler: Das war schon seltsam. Einerseits war die Lüge im öffentlichen Verkehr Staatsdoktrin und andererseits wurde sie und je weiter dieses System voranschritt, desto weniger abgenommen von der Mehrheit der Bürger. Glaubwürdig war das nie, aber das stieß eigentlich, von ein paar Getreuen des Systems natürlich, die es bis zuletzt gab, abgesehen, zunehmend auf Ablehnung, weil man es einfach besser wusste. Also man kann ja raffiniert lügen und man kann plump lügen. Und diese Art von plumpem Lügen, die so offenkundig war, weil man es in der eigenen Erfahrung schon an der nächsten Ecke besser wusste oder hörte, entwertete das, und es war eine Münze, die keiner als Zahlungsmittel annahm.

Insofern belehrte sich die Gesellschaft untereinander, natürlich auch vermittels von Medien, die hineinragten, Informationen über sich selber, und unterrichtete und klärte sich auch selber auf. Das war … eigentlich standen die mit all dem Aufwand, das überlegt, den sie trieben, auf verlorenem Posten. Es war eine reine Don Quichotterie.

Heise: Ja, genau, aber das müssen sie doch selbst gemerkt haben? Das finde ich dann immer wieder interessant, wie so ein Lügengebäude …

Engler: Ich denke, sie haben’s gemerkt, aber sie kamen aus dieser Gefangenschaft nicht mehr raus. Einer hätte den Anfang machen müssen, und man weiß, aller Anfang ist schwer und der lädt alle Risiken auf sich, also macht er keinen Anfang. Und da musste man sie erst hinwegfegen.

Heise: Lüge und Aufrichtigkeit im Systemvergleich sozusagen, unser Thema im Deutschlandradio Kultur mit dem Soziologen Wolfgang Engler. Thema Kommunikation würde ich gerne dabei bleiben, aber jetzt mal im kapitalistischen System: Wie wichtig sind denn für die Aufrichtigkeit im Kapitalismus die modernen Kommunikationsmedien?

Engler: Ich glaube, die können eine und spielen ja auch in gewisser Weise auch eine Rolle, auch im Sinne einer Selbstaufklärung der Bürger, indem sie über Formen, die sie vor 10, 15 Jahren nicht oder nicht in demselben Maße zur Verfügung hatten und vor 30 schon gar nicht, auch einen eigenen Diskurs führen können, Dinge aufklären können, infrage stellen können, indem … Beispielsweise fand ich’s interessant, auf unser Thema jetzt unmittelbar bezogen, das, was die Banken angeht, von denen man ja wieder sagt, selbst der Hundt hat es gestern gesagt, vom …

Heise: Arbeitgeberpräsident.

Engler: … die haben nichts gelernt, die Banker, also die großen Banken. Da hat Ver.di eine Webseite eröffnet, auf der Leute sich auch äußern, die sagen, es ist noch immer so, noch immer sind wir gehalten, den Kunden übers Ohr zu hauen, ihm Risiken zu verschweigen, Dinge schöner darzustellen, als sie sind, und zwar maßlos schöner, und zu sagen, das ist gar kein Risiko, das ist wunderbar für Sie. Da melden sich jetzt viele Leute, schreiben sozusagen dort ihre Texte, beklagen sich. Und das ist, finde ich, auch für uns erhellend und aufschlussreich, weil wir sehen, wie wenig weit vorangeschritten der Prozess ist, von dem wir uns alle ja nur wünschen können, dass Lerneffekte irgendwann mal eintreten.

Heise: Lerneffekte und Transparenz ist ja auch immer so ein ganz großes Wort. Sie benutzen den Ausdruck funktionale Transparenz, das heißt, angeblich aufrichtiges Verhalten ist doch eigentlich die wahre Unaufrichtigkeit?

Engler: Ja, ja. Ich würde mir, wenn man sich fragt, wie kommt man jetzt aus dem Schlamassel heraus, dann ist, glaube ich, eine Lösung darin, die ist völlig unbestritten politisch weltweit, dass Regeln eingeführt oder wieder eingeführt werden, die den Teilnehmern, den Akteuren, namentlich des Wirtschaftssystems, es erschweren, das Spiel weiterzuspielen, das sie gespielt haben – ihre Risiken nicht sagen, verpacken, auf die Reise schicken, bis sie selber die Dummen sind. Das ist das Problem sozusagen der Regularien, dessen, was die Form des Systems angeht, dass Akteure in ihren Funktionen – das meint das mit funktionaler Transparenz – in ihren Funktionen mehr Vorteil daraus ziehen, anderen das zu sagen, was sie wissen und was sie betrifft, als wenn sie’s nicht tun.

Das ist nicht alles, weil ich glaube, wir sind als Bürger gehalten – wir sprachen ja gerade darüber –, die Regeln durch eigene Vorstellungen von Normen zu untersetzen und dadurch zu stabilisieren, weil nur ein System sozusagen politischer Regulierung, wenn wir alle glauben "na ja, kann sein, schön", aber uns nicht selber genötigt fühlen, das auch in unseren eigenen Wertvorstellungen zu befestigen, werden diese Regeln auf Dauer nicht erfolgreich sein. Wir schliddern zurück in den Mist, aus dem wir kommen.

Heise: Aber die Normen werden doch von uns allen von der Gesellschaft letztendlich gesetzt?

Engler: Na klar.

Heise: Und wenn dann quasi alles so unterlaufen ist von Lüge, die Sie überall sehen, wo sind dann die Normen, wo werden die gebildet, die Norm der Aufrichtigkeit?

Engler: Das meine ich. Ich glaube, es müsste eine – es gibt ja im Ansatz auch solche Debatten, aber es ginge wirklich darum, dass wir alle da, wo wir Verhältnisse vorfinden, die uns außerstande setzen, halbwegs anständig zu agieren, vertrauensvoll zu agieren, dass wir diese Verhältnisse skandalisieren. Das ist ein gesellschaftlicher Diskurs, ohne den der Politische seltsam blind und hilflos bleibt. Das ist natürlich, das erfordert Mut, weil es heißt auch, Ross und Reiter zu benennen, zum Beispiel in einer Bank, in einem großen Wirtschaftsunternehmen, in einem Discounter.

Wir hatten ja vorhin das Thema der Bespitzelung im Osten, aber erinnern wir uns doch, wie in der Wirtschaft sozusagen große Unternehmen, Banken, die Deutsche Bahn, Lebensmittelgeschäfte, große Ketten, sozusagen ihre Mitarbeiter bespitzeln, um sie auch auf Kurs zu bringen. Das muss man skandalisieren, es hilft nichts, da müssen die einzelnen Mut genug haben. Die Situation ist günstig, finde ich, dafür, weil es stößt auf Resonanz bei uns allen. Wenn man den Zeitpunkt verpasst, sind wir, glaube ich, alle die Leidtragenden.

Heise: Hatten Sie eigentlich, aus dem Bespitzelungssystem kommend, die Hoffnung, dass es im Westen weniger verlogen zugeht oder im Gegenteil?

Engler: Nee, ich hatte schon die Hoffnung, dass – zumindest was die Beziehung, die wir umgangssprachlich privat nennen, intim nennen, die persönlichen Beziehungen – dass das Machtsystem nicht in dem Maße in diese Verhältnisse hineinragt, dass man dort etwas gelassener, entspannter sein kann, was das angeht. Was die sozialen Beziehungen, die vermittelten Beziehungen in der Wirtschaft und der Politik angeht, war meine Hoffnung weniger euphorisch, aber ich habe nicht so schwarzgesehen, dass ich mir hätte vorstellen können, dass ein Riesenunternehmen wie beispielsweise die Deutsche Bahn 160.000 Leute, hallo!, mit Kontonummern und … das hätte ich nicht für unmöglich gehalten, aber ich hätte nicht gedacht, dass es so flächengreifend passiert ist, muss ich schon sagen.

Heise: "Lüge als Prinzip. Aufrichtigkeit im Kapitalismus", unser Thema war das, und es ist auch der Titel eines Buches von Wolfgang Engler. Herr Engler, ich danke Ihnen recht herzlich für das Gespräch!