Syrien-Konflikt

Türkei greift Kurden in Nordsyrien an

Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu
Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu © dpa / picture alliance / EPA
Von Reinhard Baumgarten · 14.02.2016
Türkische Artillerie beschießt Stellungen von Kurden-Milizen in Nordsyrien. Regierungschef Ahmet Davutoğlu rechtfertigt das mit einer Gefährdung der Türkei – und sogar mit dem Schutz von Flüchtlingen.
Ein Alptraum Ankaras nimmt Gestalt an. Dank amerikanischer Luftangriffe auf die Terrormiliz Islamischer Staat erzielen die syrischen Kurden immer mehr Geländegewinne an der türkischen Grenze. Längst ist die von Ankara gezogene Rote Linie überschritten: Die Yekîneyên Parastina Gel – kurz YPG – operiert westlich des Euphrats.
Seit gestern werden die kurdischen Volksverteidigungseinheiten von türkischer Artillerie beschossen, weil sie "gemeinsam mit Russland und syrischen Streitkräften syrische Zivilisten angreifen", erklärt Ankaras Regierungschef Davutoğlu. "Sie attackieren Kurden, Araber und Turkmenen, die nicht so denken wie sie." Ankara wirft der YPG ethnische Säuberungen und Kriegsverbrechen im Norden Syriens vor.
Ahmet Davutoğlu: "Wir erwarten, dass die USA als unser Verbündeter öffentlich dagegen Stellung bezieht."
Genau das tut Washington nicht. Weil Washington die YPG als effektive Kraft im Kampf gegen die IS-Terrormiliz schätzt. Für Ankara sind die YPG-Kämpfer aber mit der türkischen PKK liierte Terroristen.
Ahmet Davutoğlu: "Wenn die Türkei bedroht wird, dann werden wir in Syrien ohne zu zögern die notwendigen Maßnahmen ergreifen so wie wir das in den Kandilbergen im Nordirak getan haben."
Artillerie statt Luftwaffe
In den Nordirak ist die Türkei zuweilen mit mehr als 10.000 Soldaten eingerückt, um die PKK zu bekämpfen. Im Nordirak bombardiert die Türkei immer wieder PKK-Stellungen. In Nordsyrien ist die Lage anders. Dort hat Russland die Lufthoheit, und Moskau hat gedroht, türkische Kampfjets abzuschießen, falls sie in den syrischen Luftraum eindringen. Deswegen feuern die türkischen Streitkräfte mit weitreichenden Haubitzen auf mutmaßliche YPG-Stellungen nahe der syrischen Grenzstadt Azaz. Ankara wirft der YPG Grenzverletzungen vor. Seit gestern wird von türkischem Boden aus zurückgeschossen.
Ahmet Davutoğlu: "Wir werden gegen jeden Schritt der YPG Vergeltung üben. Die YPG und ihre Hintermänner sollten die Haltung der Türkei kennen. Die YPG hat Azaz und seine Umgebung sofort zu verlassen und sich ihr nicht mehr zu nähern."
Die YPG ist dabei, nicht nur Gebiete zu erobern, die von der IS-Terrormiliz gehalten werden, sondern auch Gebiete, in denen Rebellengruppen operieren, die von Ankara unterstützt werden. Präsident Erdoğan warnt düster: "Bis auf weiteres sind wir noch geduldig."
Das Vorrücken der YPG gefährdet auch Ankaras Pläne, Flüchtlinge in grenznahen Lagern auf syrischem Gebiet zuverlässig versorgen zu können. Mit dem Artilleriebeschuss von YPG-Stellungen wolle die Türkei sicherstellen, "dass Flüchtlinge im Gebiet von Azaz sicher verweilen können" (Davutoğlu).
Türken warnen vor Hungertoten
Jahrelang hat die Türkei von Rebellen gehaltene Stadtteile Aleppos versorgt. Diese Nabelschnur habe das Überleben vieler Menschen gesichert, betont Regierungschef Davutoğlu:
"Der Versorgungskorridor zwischen der Türkei und Aleppo ist blockiert. Das ist barbarisch, tyrannisch, ein Krieg, der mit einer mittelalterlichen Mentalität geführt wird. Hunderttausenden droht der Hungertod, wenn der humanitäre Korridor nicht offen ist."
Die Türkei, so versichert der 56-Jährige, werde ihren syrischen Brüdern mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln helfen und niemals zulassen, dass Aleppo durch ein ethnisches Massaker entvölkert werde.
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