Sukzessives Abdriften in den Wahn

18.02.2011
Die 1954 in North Dakota geborene Louise Erdrich - Tochter einer Stammesangehörigen der Chippewa und eines Deutschen, der im Reservat Deutsch und Englisch unterrichtete – inszeniert in ihrem jüngsten Roman mit viel Perfidie das Psychodrama zweier indianischer Liebender.
Seitdem die Kunsthistorikerin Irene America ihrem Mann Gil LaRose mal züchtig, mal pornographisch posierend Modell sitzt, hat der bisher als "indianischer Edward Hopper" belächelte Maler Erfolg. Die Muse aber beschleicht zunehmend das Gefühl, er beute ihren makellosen Körper aus. Auch verfestigt sich in Irene der Glaube, Gil setze beim Malen "seinen Fuß auf ihren Schatten". In der indianischen Vorstellungswelt bemächtigt man sich so der Seele eines anderen.

Wie in Erdrichs anderen Romanen spielt auch "Schattenfangen" in einem Bundesstaat mit Reservaten der Chippewa, Sioux und Cree. Sehr beiläufig streut sie Exkurse über die Stammesgesetze und die Lebensumstände nordamerikanischer Indianer und Mestizen ein. Indianer in der bildenden Kunst wie in der Literatur sind für sie kitschverdächtig.

Louise Erdrich beginnt ihren Roman mit einer Tagebucheintragung Irenes und richtet schon auf der nächsten Seite den auktorialen Blick auf Gil, der seine Arbeit im Atelier unterbricht und eine Schublade im Nebenraum öffnet. In ihr befindet sich, unter Kontoauszügen versteckt, ein zweites Notizbuch von Irene. Dem einen werden intime Gefühle anvertraut, das andere wird genutzt, um den Ehemann gezielt zu manipulieren, denn Irene hat entdeckt, dass Gil heimlich ihre Aufzeichnungen liest. Die Strafe für den unverzeihlichen Übergriff besteht darin, Gil mithilfe des zweiten Tagebuchs in die Verzweiflung zu treiben und ihn zur endgültigen Auflösung der Ehe zu bewegen. Drängenden Fragen, wie sie ein Leben mit den drei minderjährigen Kindern ohne ihn gestalten will, weicht die nach Selbstbestimmung verlangende Irene aus.

Die Egozentrik des Paares, das an seiner Hassliebe leidet und sich nach gewaltsamen Attacken über den Köpfen der Kinder umarmt, ist beklemmend. Wie Gift wirken die Zweifel, die Irene bei ihrem Partner vorsätzlich schürt. Erdrich schreibt bösartige, listige Dialoge, um ihren Figuren die Haut abzuziehen. Sukzessive driftet das Paar in den Wahn, während die Kinder Vorbilder in charismatischen indianischen Persönlichkeiten suchen oder die Angst vor dem Zerbrechen der Familie mit Drogen betäuben.

Das Paardrama endet tödlich. Warum Eltern ihre Kinder sehenden Auges zu Waisen machen, bleibt eine ungelöste Frage. Im letzten Romankapitel enthüllt Louise Erdrich, dass eines der hinterbliebenen, erwachsen gewordenen Kinder die auktoriale Erzählerin ist. Die Tochter gerät ins Straucheln, weil sie Sinn in der verzehrenden Liebe der Eltern entdecken will. Auch das gehört zur Tragik dieses anrührenden, dicht erzählten Romans. Er weckt den Wunsch, manchmal lieber "als Schlange, Spinne, Ratte oder Wolf zu leben", weil das Menschsein zu schwer ist. Erlösung ist für Louise Erdrich ein Fremdwort.

Besprochen von Sigrid Brinkmann

Louise Erdrich: Schattenfangen
Aus dem Amerikanischen von Chris Hirte
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011
240 Seiten, 17,90 Euro