Suggestion, Suche und Seelenschrei

Von Eberhard Spreng · 21.07.2013
Zum Abschied des langjährigen Leitungsteams präsentierte das Theaterfestival von Avignon in diesem Jahr Arbeiten von Stars wie Marthaler, Platel, Brook und Ostermeier. Mal fühlte man sich der politischen Intervention verpflichtet, mal dem stummen Ritual, mal der radikalen Expressivität.
Stimmung im alten Theater von Avignon. Zwei ziemlich verklemmte Gestalten haben sich während ihres Musical-Gesangs zu plötzlichen kurzen Tanzgesten hinreißen lassen, kleine Momente des Ausbruchs aus dem Rollengefängnis einer provinziellen Wohlanständigkeit. Hinter ihnen sieht man ein voll eingerichtetes Schlafzimmer: Tapete mit blauem Blümchenmuster, Wandschränke, eine Nische mit Schminkspiegel.

Wie immer in Christoph Marthalers musikalischem Spaßtheater ist das Dekor eine durch und durch naturalistische Nachempfindung von exemplarischen Spießermilieus. Er braucht diesen Naturalismus, um die buchstäbliche Ver-rücktheit seiner Figuren mit einem ästhetischen Koordinatensystem auszustatten. Im leeren Raum wären die kleinen Ausrutscher, die seine Figuren so komisch machen, nicht erkennbar.

"King-Size", ein Gastspiel des Theater Basel, nahm das Publikum in Avignon dankbar auf. Christoph Marthaler hat hier längst seine Fangemeinde. Er ist einer von 20 Künstler oder Künstlerduos, die mit nur einer Aufführung im letzten von Vincent Baudriller und Hortense Archambault konzipierten Programm in Erscheinung treten.

Alles beruht auf Andeutungen
Anders als Christoph Marthaler setzt Peter Brook, dessen Buch "Der leere Raum" bei Theaterleuten Kultstatus genießt, auf eine möglichst freigeräumte Bühne. In einem ARTE-Film, der im Theater von Avignon gezeigt wurde, erklärt er Schauspielern in einem Workshop seine Bühnenvision:

"Theater ist nie etwas Naturalistisches. Alles was wir hier üben, soll dazu führen, dass wir Suggestion erzeugen. Alles beruht auf Andeutungen. Nur dann ist die Vorstellungskraft lebendig."

Der alte Regisseur erklärt vieles über Energie und Bewegung und lässt seine Akteure auf einem imaginären Drahtseil balancieren, auf der Suche nach dem unverstellten, puren, quasi überzeitlichen Archetyp von Bewegung, Rhythmus, Intensität.

Im Gegensatz dazu bringt Thomas Ostermeiers Theaterreise nach Palästina, in die besetzten Gebiete, vielfältige historische und politische Schichtungen beim Blick auf den Shakespeareschen Hamlet zutage. Bei einem Workshop mit arabischen Schauspielern erklärt er die Beziehung von Protagonist und Publikum:

"Vor einem Auftritt muss man sich darüber im Klaren sein, dass die Leute bezahlt haben, um die Geschichte zu hören. Sie kommen nicht, damit du dich besser fühlst. Sie haben sich die Mühe gemacht, um aus Bethlehem oder Jenin anzureisen, und sie haben bezahlt. Aber im Fall von Hamlet ist das Publikum der einzige Freund. Hamlet spricht zum Publikum, als wäre es ein Freund."

In Helsingörs korruptem Hofstaat gibt es für Hamlet keinen Menschen, dem er vertrauen könnte. Ostermeier sucht nach Parallelen im Nahost-Konflikt. Ein fast ohne Produktionsmittel entstandener Film, der im Theater der Rhône-Stadt Premiere hatte, dokumentiert seine Arbeit mit dem Al-Kasaba Theater in Ramallah und die Recherche, die er in der Folge der Ermordung von Juliano Mer Khamis, dem Gründer des Jenin Freedom Theaters, dort unternahm. Sein oder Nichtsein, Kämpfen oder Erdulden, wird für ihn so zu einer durch die Realität des Nahen Ostens politisch aufgeladene Kernfrage.

Tanztheater als Ort der Versöhnung
Aber auch verspielt Unterhaltendes gehört zur All-Stars-Reihe des Theaters in Avignon: Alain Platel verzaubert mit einem zutiefst philantropischen Tanztheater, das sich humorvoll mit Dance-Floor-Ritualen beschäftigt und dessen exzellente tänzerische Leistungen mit Standing Ovations belohnt wurden. Wenn es einen Ort der Versöhnung gibt, dann ist es das Tanztheater des Belgiers.

Eine leere Bühne ist hier ebenso Voraussetzungen wie für Sasha Waltz' Dialoge 20-13, eine Verbindung aus Action Painting und Tanz, das nicht nur auf den Gewändern der Tänzer ihre Farbspuren hinterlässt: Denn das auf der Bühne ausgebreitete Tuch wird am Ende in den Schnürboden gezogen und offenbart in der vertikalen Ansicht die Spuren, die die Körper auf der zunächst horizontalen Fläche hinterlassen haben.

Die diesjährigen Artistes Associés, Stanislas Nordey und der Kongolese Dieudonné Niangouna, lieferten sich in ihrer Lesung ein Kreuzfeuer literarischer Positionen aus dem Norden und Süden des Planeten. Der Italiener Pippo Delbono trat in einen literarisch musikalischen Dialog mit dem rumänischen Violinisten Alexander Balanescu, "Amore e Carne", mit Texten von Rimbaud, Artaud, Pasolini und anderen, ist ein "Seelenschrei" aus Musik und Wort.

Pippo Delbono bezieht mit seiner radikalen Expressivität eine Extremposition auf der Palette europäischer Bühnenhandschriften. Aus ihnen ist der ästhetische Horizont abzulesen, den das Festival in den letzten zehn Jahren abgeschritten hat.

"Des Artistes un Jour au Festival" ist ein Resumé, das sich nicht auf eine Formel bringen lässt: Mal fühlt man sich der politischen Intervention verpflichtet, mal dem stummen Ritual. Alle Bühnenkünstler hatten freie Hand und sehr viele entschieden sich für kleine Arbeiten auf der Basis von Prosatexten.

Man hat der scheidenden Festivalleitung in den letzten Jahren gelegentlich eine zu große Affinität zum Multimedialen und ästhetisch Disparaten vorgeworfen, eine Abkehr von der Sprache als Basis allen Theaters. Die Künstler aber, die hier ihren Abschied vom Direktorenteam Baudriller und Archambault feiern, halten sich streng an das Leitmedium Literatur.

Informationen des Festival d'Avignon
Hortense Archambault (links) und Vincent Baudriller haben auch das diesjährige Festival d'Avignon geplant.
Hortense Archambault (links) und Vincent Baudriller haben von 2004 bis 2013 das Festival d'Avignon geleitet.© AP Archiv
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