Sündenbock Religion

Von Astrid von Friesen · 09.08.2012
Das Kölner Beschneidungsurteil hat eine Debatte über die Rolle von Religion und Tradition in unserer Gesellschaft augelöst. Dieser erregte Disput offenbart, so die Psychoanalytikerin Astrid von Friesen, dass die Menschen hierzulande ihren eigenen Glauben tabuisieren.
Was ist die quälendste Angst des Menschen? Wahrscheinlich die, allein zu sein im Universum. Deswegen brauchen wir, nicht nur zum physischen Überleben, den Schutz der Gruppe. Es gibt kein Ich ohne das Wir! Die Bedingung dafür: Wir müssen uns anpassen und tun es in 1000 Kleinigkeiten – bis in die banalsten Modediktate hinein.

Gegen diese existenzielle, zerstörerische Angst haben schon immer die Götter helfen können. Denn, wie der Soziologe Emile Durckheim sagte: Wir beten nicht Gott an, sondern die idealisierten Regeln der Gesellschaft. In den Feuilletons erscholl jüngst ein Aufstöhnen: Warum haben wir Deutsche uns das brisante Thema des Beschneidungsverbots eingebrockt?

Doch das Kölner Landgericht, sozusagen als Delegierte des sozialen, deutschen Unterbewussten, brachte etwas an die Oberfläche, was unsere zweite Generation nach dem Holocaust immer noch umtreibt: Warum und inwiefern waren unsere Eltern gnadenlos gegen ungezählte Opfer, gegen ungezählte ermordete Kinder? Deswegen sind viele von uns gnadenlos für die Opfer, also ebenfalls blind, nahezu hysterisch und keineswegs in der Mitte, in der in Ruhe diskutiert werden kann.

So wie viele Richter heute – nach Jahrhunderten des Patriarchats - bei Scheidungsverhandlungen überidentifiziert mit Frauen sind, sind viele überidentifiziert mit allen potenziellen Opfern.

Doch jeden vor allem zu schützen ist unrealistisch. Auch wenn wir dies zunehmend vom Staat fordern. Diese extrem ängstliche Haltung, oft bei Eltern zu beobachten, die ihre Kinder bis zur Lebensbehinderung pampern, ist jedoch nur die Kehrseite der deutschen Polarisierungsneigung in Gut oder Böse, Insider oder Outsider, Leben oder Tod.

Die Religionen werden gleichgesetzt mit negativen Aspekten, gelten als Gegner des Fortschrittes. Die Verfechter der Vernunft, Rationalität und damit der Moderne brauchen wiederum die Religionen als Sündenböcke, um sich ihrerseits abzugrenzen und um sich als besseres Rollenmodell zu inszenieren.

Radikale Islamisten drehen den Spieß um: Sie definieren die westlichen Gesellschaften als das Böse schlechthin, um sich selbst als näher zu Gott empfinden zu dürfen.

Auf der symbolischen Ebene sind diese Versuche, die eigene Gruppe durch die Auflistung der Defizite in der Nachbargruppe aufzuwerten ebenfalls "kulturelle Schnitte", da wird etwas "abgeschnitten" und man "schneidet sich" von etwas ab, nämlich von der uns allen gemeinsamen, kulturellen Menschlichkeit.

Vielleicht geht es in dieser Diskussion um zwei geheime Themen. Um die Frage, was zu unserem Menschsein, also auch zu unserer Religiosität dazu gehört. Denn über den eigenen Glauben zu sprechen scheint tabuisierter zu sein, als über die eigene Sexualität in Talkshows zu palavern!

Und zweitens, was tragen wir Deutsche noch an Scham, Schuld und nicht vollzogener Trauer, wenn ein Gericht die Tabuthemen von gnadenlosem, weil blindem Tätersein, vom Opfersein und der Opferverhinderung benennt und uns damit in Erinnerung bringt, dass Deutsche viel schlimmere Traumata produziert haben, indem sie die Lebensdauer von Millionen Menschen vorzeitig "beschnitten".

Astrid von Friesen, Jahrgang 1953, ist Journalistin, Erziehungswissenschaftlerin, sowie Gestalt- und Trauma-Therapeutin. Sie unterrichtet an den Universitäten in Dresden und Freiberg, macht Lehrerfortbildung und Supervision. Im MDR-Hörfunkprogramm "Figaro" hat sie eine Erziehungs-Ratgeber-Sendung. Außerdem schreibt sie Bücher, zuletzt: "Schuld sind immer die anderen! Die Nachwehen des Feminismus: frustrierte Frauen und schweigende Männer" (Ellert & Richter Verlag Hamburg).
Astrid von Friesen
Astrid von Friesen© privat
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