Sühne statt Versöhnung

Von Matthias Bertsch · 26.04.2008
Am 30. April 1958 wurde auf der Synode der Evangelischen Kirche Berlin-Spandau die Aktion Sühnezeichen ins Leben gerufen. Seitdem sind Tausende junger Deutscher als Freiwillige der Organisation in die Länder gereist, die am meisten unter der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft litten. Die Freiwilligen arbeiten in sozialen Einrichtungen oder betreuen Überlebende des Holocausts - als Zeichen des guten Willens und des Bewusstseins, dass die Geschichte in Deutschland nicht in Vergessenheit gerät.
Unter dem Motto "Dem Frieden Wurzeln geben" wird das Jubiläum vom 30. April bis zum 4. Mai in Berlin groß gefeiert. Matthias Bertsch ist den Spuren von Aktion Sühnezeichen nachgegangen und beginnt mit einem Zitat des Gründers.

"Wir bitten die Völker, die Gewalt von uns erlitten haben, dass sie uns erlauben, mit unseren Händen in ihrem Lande etwas Gutes zu tun. Lasst uns mit Polen, Russland und Israel beginnen, denen wir wohl am meisten wehgetan haben."

Als Lothar Kreyssig im Frühjahr 1958 die Aktion Sühnezeichen gründete, waren die Deutschen vor allem noch mit dem eigenen Leid beschäftigt. Kreyssig und die anderen Sühnezeichen-Gründer galten vielen als Vaterlandsverräter, die extreme Rechte sprach von "nationalmasochistischen Bußpredigern". Und doch fanden sich schnell Freiwillige, die dem Aufruf folgten.

"Das war damals schon Streitpunkt: dieser Begriff mit Sühnezeichen. Mit dem hatte ich damals meine Probleme und hab ich heute meine Probleme auch. Aber was immer sympathisch war, war bei dieser christlichen Organisation, dass sie nicht nur salbungsvoll geredet hat, sondern man hat vernünftige Sachen gemacht. Was die Hände getan haben, hat gezählt, nicht was die Münder geredet haben, und das war eine gute Sache. Es ist nicht gesagt worden, Sühnezeichen in Deutschland, wir kommen und arbeiten im Altersheim bei euch, sondern ist gefragt worden: Wir wollen kommen, was sollen wir bei euch machen?"

Günther Wahrheit war 19 Jahre alt, als er in einem Kibbuz in Israel bei der Bananen- und Zitronenernte half - Mitte der 60er Jahre acht Monate lang. Wie für viele der jungen Freiwilligen stand für ihn im Vordergrund: Raus aus Deutschland! Dass ihn im jüdischen Staat die deutsche Geschichte einholen würde, war ihm vorher so nicht bewusst.

"Es gab keine Feindseligkeit, keine. Das war besonders beschämend, ja, das ist eine Situation, mit der man fast noch schwerer umgehen kann als mit Abneigung. Viele haben dann gesagt: 'Ach, meine ganze Mischpoke ist kaputt', ja so in Jiddisch, so am Kiosk, 'meine Mischpoke ist kaputt', also die ganze Familie ist kaputt. Das waren schon schreckliche Erlebnisse, aber das haben die nicht unfreundlich gesagt."

Als gesamtdeutsche Initiative ins Leben gerufen, wurde Aktion Sühnezeichen schon wenige Jahre nach ihrer Gründung durch den Mauerbau geteilt. In der Bundesrepublik tendierte die Organisation im Rahmen der Studentenbewegung zunehmend nach links und fügte ihrem Namen 1968 den Zusatz "Friedensdienste" bei: Viele Israel-Freiwillige wollten nun lieber mit der arabischen Minderheit im jüdischen Staat arbeiten als mit Opfern der Shoa. Eine Haltung, so der Auschwitz-Überlebende Jehuda Bacon, die in Israel auf Kritik stieß.

"Dann war die Frage, wenn sie schon kommen, als Sühnezeichen, für wen die Sühne, für die ehemaligen KZler oder für Bedürftige in arabischen Dörfern? Und das waren kleine Probleme, aber die waren mehr so politisch, und für mich die Politik ist nicht das Wichtigste. Und ich unterstreiche immer die persönlichen, menschlichen Beziehungen und auch diese Perspektive, so zu handeln."

Manchmal glichen die Beziehungen einem Drahtseilakt. Als im April 1978 bei einer Rundreise durch das israelisch besetzte Westjordanland in Nablus zwei Sühnezeichen-Freiwillige Opfer eines Attentats wurden, war nicht nur der Schock groß, sondern auch das Verständnis für den Attentäter, erinnert sich Bernhard Krane. Krane, der damals mit in dem Bus saß, in dem der selbst gebaute Sprengsatz explodierte, ist heute Israel-Referent der Organisation. Die Predigt bei der Trauerfeier in Jerusalem wenige Tage nach dem Anschlag, hielt der damalige Leiter von Aktion Sühnezeichen in Israel, der evangelische Pfarrer Jürgen Stache. Auch daran erinnert sich Krane genau.

"Es gibt auch eine Fürbitte, die nimmt auf den Täter Bezug, auf den Terroristen und bittet auch für ihn, für seine Familie und für ihn, der jetzt verzweifelt ist und sicher auch Angst hat. Das war aus tiefstem Herzen gesprochen, aber es war kaum zu ertragen für die meisten jüdischen Projektpartner, und das stand dann am anderen Tag dann auch gleich in Deutschland in der Zeitung."

In der DDR hatte Aktion Sühnezeichen eine andere Entwicklung genommen. Freiwilligendienste im Ausland waren aufgrund der Reisebeschränkungen kaum möglich, vor allem aber, so der damalige Geschäftsführer von Aktion Sühnezeichen in der DDR, Christian Schmidt, widersprach der Grundgedanke von Sühnezeichen dem Selbstverständnis des "antifaschistischen Staates":

"Staatliche Stellen konnten nicht ertragen, dass sich Deutsche zu einer Schuld bekennen, die es offiziell nicht gab, die offiziell geleugnet wurde. Die offizielle Linie war ja etwa die, dass die sagten: 'Wer Schuld am Dritten Reich hat, die sitzen in der Bundesrepublik, die Edlen und Guten und die Antifaschisten sitzen alle in der DDR.' Und insofern haben sie uns das ganz schwer verübelt und uns behindert im Blick auf die osteuropäischen Länder, dass wir uns zu einer Schuld bekennen, die es offiziell eigentlich nicht geben durfte."

Um trotzdem nicht untätig zu bleiben, führte Aktion Sühnzeichen in der DDR seit Anfang der 60er Jahre sogenannte Aufbaulager durch: zweiwöchige Lager, in denen Freiwillige Kirchen vor dem Verfall retteten und soziale Einrichtungen bei Bautätigkeiten unterstützten. Über kirchliche Kontakte wurde schließlich auch die Arbeit in Polen und der Tschechoslowakei möglich. Die Sommerlager, bei denen ehemalige Konzentrationslager und jüdische Friedhöfe vor dem Verfall gerettet werden, sind noch heute, 17 Jahre nach der Wiedervereinigung der beiden Teilorganisationen, eines der wesentlichen Tätigkeitsfelder von Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste - beim Namen hat sich der Westen durchgesetzt. Auch die Langzeit-Freiwilligen gibt es nach wie vor. Weit über hundert junge Deutsche gehen jährlich nach Weißrussland, Belgien, Israel oder eines von neun weiteren Ländern, um dort in einem Kinderheim, einer Gedenkstätte oder mit Überlebenden der Shoa zu arbeiten. Der in Jerusalem lebende Jehuda Bacon ist einer davon. Die Freiwilligen, die dem 78-jährigen Künstler beim Aufräumen seines Ateliers helfen, könnten seine Enkelkinder sein.

"Ich frag sie immer, die zu mir kommen: 'Warum bist du eigentlich da und wie ist dein Background?' Das hat nichts mehr Persönliches zu sagen, es war interessant ein neues Land zu sehen, sie haben keine Ahnung, was eigentlich war, auch das kann ich verstehen, warum sollen sie sich belästigen mit etwas, was ihnen prähistorisch scheint."

Die Frage nach ihrer Aktualität hat sich auch Sühnezeichen, wie die Organisation kurz genannt wird, immer wieder gestellt. Die Antwort fällt einhellig aus, egal ob bei Mitgliedern, im Vorstand oder in der Geschäftsstelle. Sühnezeichen ist in Zeiten eines zunehmenden Rechtsextremismus notwendiger denn je, sagt der Publizist Konrad Weiss, der sich seit 40 Jahren in und für Aktion Sühnezeichen engagiert.

"Wenn ich heute 18 wäre und wenn ich das Glück hätte, in eine Sozialisation reinzukommen, wo ich Aktion Sühnezeichen kennenlerne und eben nicht das Unglück hätte, meinetwegen in eine Neonazi-Gruppe hineinzugeraten, dann würde ich auch aus ganzem Herzen nach 50 Jahren wieder sagen: 'Okay, Sühnezeichen ist das, was ich für notwendig und für wichtig halte für die Zukunft unseres Landes, für die Zukunft der Menschen überhaupt.'"

Weiss scheint vielen jungen Erwachsenen aus dem Herzen zu sprechen, denn über eines kann sich Sühnzeichen nicht beklagen: über Nachwuchsprobleme. Die Zahl der Freiwilligen im Ausland hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Dass der Name Sühnezeichen heute antiquierter klingt denn je, scheint die Jugendlichen nicht abzuschrecken, im Gegenteil: Viele identifizieren sich im Lauf der Zeit mit ihm, so wie Johannes Krauter, der vor vier Jahren als Freiwilliger in Polen war.

"Bei Aktion Sühnezeichen geht es für mich nicht darum, zu sühnen, sondern darum, ein Zeichen der Sühne zu setzen. Und dieses Zeichen der Sühne bedeutet für mich, etwas geben zu wollen, ohne vom anderen etwas verlangen zu wollen. Das wäre bei Versöhnen etwas ganz anderes gewesen. Wenn man sagt, ich möchte mich versöhnen, dann geben wir uns die Hand, und dann gehen wir nach Hause, aber ich möchte etwas geben, ohne von dem anderen unbedingt zu erwarten, dass er sagt, okay, alles gut!"