Südafrika: Das Ende der Schonfrist

Von Hans Christoph Buch · 12.06.2008
"Fünf Minuten gebe ich ihm, um zu beweisen, dass er legal ist. Er kann seinen Pass holen, seinen Stempel zeigen - sonst brennt er", sagt ein Einwohner von Alexandra, dem ältesten Township Johannesburgs. Und ein Passant fügt hinzu: "Seit 1994 warten wir, dass die Regierung ihre Versprechen erfüllt. Jetzt sagen wir ihr mit dieser Botschaft: Uns reicht’s!"
"Fünf Minuten gebe ich ihm, um zu beweisen, dass er legal ist. Er kann seinen Pass holen, seinen Stempel zeigen - sonst brennt er", sagt ein Einwohner von Alexandra, dem ältesten Township Johannesburgs. Und ein Passant fügt hinzu: "Seit 1994 warten wir, dass die Regierung ihre Versprechen erfüllt. Jetzt sagen wir ihr mit dieser Botschaft: Uns reicht’s!"

Die "Botschaft" besteht darin, Menschen wie Tiere zu jagen, zu verprügeln oder zu vergewaltigen, mit Benzin zu übergießen und lebendig zu verbrennen. So furchtbar es klingt: All das ist nichts Neues auf dem dunklen Kontinent, wo Hexenverbrennungen noch heute üblich sind – selbst im modernen Industriestaat Südafrika. Die Kindersoldaten von Sierra Leone rechtfertigten das Abhacken von Händen und Füßen damit, die Opfer seien ihre Messengers, die die Botschaft der Rebellen im Volk verbreiteten: Wer, wie in Afrika üblich, per Fingerabdruck für Demokratie stimmen wollte, wurde auf diese Weise eines Besseren belehrt.

Südafrikas Präsident Thabo Mbeki schaltete auf stur und versuchte, das Problem durch Nichtstun zu lösen, während der Funke einen Flächenbrand entfachte, der von einem Township aufs nächste übersprang und auch die Touristenhochburg Kapstadt nicht verschonte. Auslöser der jüngsten Gewaltwelle war die unkontrollierte Einwanderung von bis zu einer Million Simbabwern, die vor wirtschaftlicher Not und politischer Unterdrückung des Mugabe-Regimes flohen. An dessen Menschenrechtsverletzungen ist Thabo Mbeki nicht unschuldig, weil er sich beharrlich weigert, den einstigen Befreier als das zu bezeichnen, was er in Wahrheit ist: Ein gewissenloser Despot, der Wahlen fälschen, die Opposition niederknüppeln und sein Volk verhungern lässt. Doch die Wurzeln des Problems reichen tiefer, denn schon mit seinem wider besseres Wissen geäußerten Satz, Aids sei "kein Problem" im südlichen Afrika, hat Thabo Mbeki sich als legitimer Erbe Nelson Mandelas diskreditiert. Dazu passt, dass sein designierter Nachfolger Zuma sich vor Gericht für die Vergewaltigung einer aidskranken Frau rechtfertigte mit den Worten, er habe hinterher geduscht.

Die verbale Entgleisung, die anderswo eine Politikerkarriere beendet hätte, machte Zuma beim Wahlvolk populär. Doch auch ohne solche Skandale ist Südafrikas Bilanz besorgniserregend genug. Auf der einen Seite die soziale Not der schwarzen Bevölkerung, der es nicht besser, sondern schlechter als früher geht, auf der andern der Exodus europäischer Unternehmer und weißer Farmer, die vor Gewaltkriminalität und Korruption flüchten. Die auf Toleranz gegründete, multiethnische Regenbogen-Demokratie entpuppt sich als Fata Morgana, die wie eine Trugbild zerrinnt, und das ist nicht Nelson Mandelas Schuld, der das Versprechen überzeugend vorlebte und durch seine symbolische Präsenz dazu beiträgt, Schlimmeres zu verhindern. Statt Dämme gegen die Flut zu errichten, eifert Südafrika dem negativen Beispiel seiner Nachbarn. All das wäre keine Überraschung, hätten unsere Medien und unsere Politiker das Land am Kap der guten Hoffnung nicht hochstilisiert zum Hoffnungsträger Nummer eins, dessen Rolle als Friedensstifter und Flaggschiff der Demokratie durch niemanden und nichts zu ersetzen sei, auch wenn Pretoria damit überfordert ist.

Warum sollte Südafrika von Fehlentwicklungen verschont bleiben, die den gesamten Kontinent zur Krisenregion machen, in der es nur noch wenige Oasen der Ruhe und des Friedens gibt? In keinem anderen Teil der Welt sind so viele Blauhelmsoldaten und Friedenstruppen stationiert, um machtgeile Warlords davon abzuhalten, zwangsrekrutierte Kinder mit Kalaschnikows oder Macheten aufeinander zu hetzen, wobei ethnischer Hass kein Naturprodukt ist, sondern von Demagogen künstlich geschürt wird. So besehen, ist die fremdenfeindliche Gewalt in den Townships ein Signal, dass die Schonfrist zu Ende geht und Südafrika von den Konflikten des Kontinents eingeholt wird. Das Argument, alle Probleme der Gegenwart seien Folgen der Kolonialherrschaft, in diesem Fall der Apartheid, überzeugt nicht mehr und lenkt von den hausgemachten Ursachen des Übels ab: Regierungen, denen der Machterhalt, und korrupte Eliten, denen die Selbstbereichung über alles geht – ein explosives Gemisch, das Afrika zugrunde zu richten droht.
Hans Christoph Buch, 1944 in Wetzlar geboren, wuchs in Wiesbaden und Marseille auf und las im Jahr seines Abiturs (1963) bereits vor der "Gruppe 47". Mit 22 Jahren veröffentlichte er seine Geschichtensammlung "Unerhörte Begebenheiten". Ende der 60er Jahre verschaffte er sich Gehör als Herausgeber theoretischer Schriften, von Dokumentationen und Anthologien. Auch mit seinen Essays versuchte er, politisches und ästhetisches Engagement miteinander zu versöhnen. Erst 1984 erschien sein lang erwartetes Romandebüt: "Die Hochzeit von Port au Prince". Aus seinen Veröffentlichungen: "In Kafkas Schloß", "Wie Karl May Adolf Hitler traf", "Blut im Schuh", "Tanzende Schatten" und zuletzt "Tod in Habana".