Suche nach der eigenen Biografie

13.03.2008
Das Buch "Anatolin" ist eine Spurensuche des Autors Hans-Ulrich Treichel in der Ukraine - in dem abgelegenen Straßendorf seiner Eltern. Es ist ein vielschichtiger Essay eines Schriftstellers, der über das eigene Leben schreibt.
Warum noch einmal? Warum unternimmt Hans-Ulrich Treichel nach dem großen internationalen Erfolg von "Der Verlorene" (1998) und dessen Fortführung "Menschenflug" (2005) einen weiteren Anlauf, eine offenkundig aus seinem eigenen Familienalbum stammende Geschichte einzukreisen?

Im "Verlorenen" hatte Treichel ein Ich von den Verstörungen seiner Nachkriegskindheit erzählen lassen, von einer Familie, die allem Wirtschaftsaufschwung zum Trotz nur ein Thema hatte: die Suche nach dem Sohn Arnold, der 1945 auf der abenteuerlichen Flucht aus Ostpreußen verloren gegangen war. In feinen Bildern gelang es Treichel, den Aufstieg einer bundesdeutschen Familie und deren Schuldgefühle nachzuzeichnen.

Während die Eltern keinen Aufwand scheuten, den verklärten Sohn wiederzufinden, und sich an jeden Hoffnungsstrohhalm klammerten, empfand das nachgeborene Ich insgeheim Freude darüber, dass der verzweifelten Suche der Eltern kein Erfolg beschieden war. In "Menschenflug" hingegen hatte Treichel einen Deutsch-Dozenten namens Stephan installiert, der als Autor eines dem "Verlorenen" sehr ähnelnden Buches auftritt und sich aufmachen will, den Geburtsort seines Vaters in Wolhynien, in der heutigen Ukraine, aufzusuchen - ein Vorhaben, das erst Treichels dritte Spiegelfigur, der namenlos bleibende Ich-Erzähler in "Anatolin", umsetzen wird.

Dieser, wie sein Autor Romancier und Creative-writing-Lehrender in Leipzig, sitzt im Zug, um - nachdem er die Reise zu den väterlichen Wurzeln hinter sich gebracht hat – nun auch den Herkunftsort der Mutter, den polnische Flecken Anatolin, aufzusuchen. Die beschwerliche, kaum erhellende Expedition gibt Anlass zu oft sehr komischen, stilistisch an Wilhelm Genazino erinnernden Reflexionen über eine Kindheit in Ostwestfalen und die meist fehlenden Erinnerungen an diese Zeit. Treichels Spurensuche in der Ukraine und in Polen ist nicht zuletzt ein kluger, vielschichtiger Essay über die Verhängnisse desjenigen, der über das eigene Leben schreiben möchte, schreiben muss.

Selten ist in letzter Zeit mit derart leichter Hand über den Begriff des Autobiografischen so differenziert nachgedacht worden. Der Held, der typischerweise Peter Weiss' "Abschied von den Eltern" als sein Lieblingsbuch bezeichnet, entkommt der autobiografischen Aporie nicht: Wollte er über sein Leben schreiben, setzte dies voraus, über diese Lebensgeschichte bereits zu verfügen. Treichel und seine ihm so aus dem Gesicht geschnittenen Figuren sehen sich außerstande, dies zu leisten, und erlangen das zögerlich Erhoffte nicht: Klarheit über das Schicksal des Bruders. Mit diesen drei Romanen hat Hans-Ulrich Treichel ein ungemein anregendes Experiment betrieben. Nach deren Lektüre sollte man das Wort "autobiografisch" nicht mehr unbedacht im Munde führen.

Rezensiert von Rainer Moritz

Hans-Ulrich Treichel: Anatolin
Roman, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2008,
189 Seiten, 17,80 Euro