Studio 9 - Der Tag mit Ulrike Guérot

"Gestorben wird immer für die Freiheit, nicht für die Sicherheit"

Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, Gründerin und Direktorin der Denkfabrik European Democracy Lab.
Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, Gründerin und Direktorin der Denkfabrik European Democracy Lab. © Imago / Metodi Popow
Moderation: Anke Schäfer · 06.06.2017
Wie reagieren auf den Terror in Westeuropa? Die Politologin Ulrike Guérot warnt davor, die Freiheit zugunsten der Sicherheit zu opfern. Sie plädiert dafür, den Terrorismus auch als Gesellschaftskritik zu sehen und die Motive der Täter in den Blick zu nehmen. Außerdem in der Sendung: der Abzug der Bundeswehr aus Incirlik und ein Leben ohne Plastik.
Nach den Anschlägen von Manchester und London wird verstärkt darüber debattiert, wie sich westliche Gesellschaften vor dem Terrorismus schützen können und ob wir eine neue Wertedebatte brauchen. Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot warnt davor, in dieser Debatte zu stark auf Sicherheit zu fokussieren.
Die gesellschaftliche Reaktion auf den Terror sei immer die gleiche, sagte Guérot im Deutschlandfunk Kultur: "Mehr Überwachung, mehr Schutz, können wir mehr tun, Vorbeugehaft - also, da kommen ja Dinge ins Gespräch, die de facto Freiheitsbeschränkungen sind." Dabei besteht ihr zufolge die Gefahr, dass der große aufklärerische Wert Freiheit der Sicherheit geopfert wird. "Sicherheit" sei jedoch kein Wert an sich, betonte die Politikwissenschaftlerin. "Gestorben wird immer für die Freiheit, nicht für die Sicherheit."

Die Motive der Terroristen in den Blick nehmen

In der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus plädiert Guérot dafür, nicht auf Abschottung und Ausgrenzung zu setzen, sondern die Motive der Terroristen in den Blick zu nehmen. "In der Soziologie ist ja Gewalt ein Zeichen von Kritik."
So stecke dahinter eine fundamentale Kritik am westlichen Hedonismus: "Die sind halt ein Gottesstaat und wollen einen Gottesstaat bauen und kritisieren - um es jetzt mal pathetisch zu formulieren - den Mangel an Spiritualität oder die relativ zielgerichtete Ausrichtung auf Geld und Luxus in westlichen Gesellschaften. Und da mal hinzugucken und zu sagen, können wir was anfangen mit der Kritik, wäre vielleicht auch mal eine Überlegung wert."

Wenn Menge gegen Menge steht, ist das Bürgerkrieg

Eine weitere Bedrohung der westlichen Gesellschaften sieht Guérot in deren zunehmenden Polarisierung und Spaltung in unversöhnliche Lager. Zwar sei Pegida genauso eine Minderheit wie Pulse of Europe, so die Politikwissenschaftlerin. "Aber dahinter steht natürlich schon ein Problem, und zwar das Problem des Wegbrechens der repräsentativen Demokratie."
Diese Spaltung sei in anderen europäischen Ländern wesentlich tiefer als in Deutschland, warnte Guérot. Zum Beispiel in Großbritannien: "Also weder die, die für den Brexit waren, können sagen, wir sind Großbritannien - und die, die dagegen waren, können es halt auch nicht mehr. In der Theorie ist das der Zustand des Bürgerkrieges, wenn eine Menge gegen eine andere Menge steht und keine mehr den politischen Körper repräsentiert."

Ulrike Guérot ist Politikwissenschaftlerin und Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems. Sie ist außerdem Gründerin und Leiterin des Thinktanks "European Democracy Lab" in Berlin.

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