Studieren in Deutschland – alles andere als exzellent?

Moderation: Dieter Kassel · 27.10.2012
Erstsemester-Veranstaltungen in Fußballstadien und Notunterkünfte in Sporthallen. Dazu die anhaltende Kritik an der Bologna-Studienreform mit Stichworten wie "Bulimie-Lernen" und Verschulung. Ein Gespräch mit Stefan Kühl und Joybrato Mukherjee.
"Die Bologna-Reform hat an den Hochschulen zu einer bisher nicht gekannten Bürokratisierung geführt",

sagt Stefan Kühl, Professor für Organisationssoziologie an der Universität Bielefeld. Die Umstellung auf das zweigliedrige System von Bachelor und Master sei zwar sinnvoll gewesen, insgesamt sei die Reform aber Ausdruck einer "irrsinnigen Planungsfantasie", die er auch in seinem Lehralltag erlebt:

"Die Beschreibung eines einzelnen Studiengangs, die vor der Bologna-Reform häufig in eine einzige Klarsichtfülle gepasst hat, füllt inzwischen mehrere Aktenordner, weil letztlich stundengenau definiert werden muss, was und wie Studierende zu lernen haben."
Die Fixierung der Studierenden auf die Leistungspunkte verdränge das wissenschaftliche Arbeiten. Das Studium verkomme zu einem Sudoku-Spiel:

"Man muss irgendwie Punkte verteilen, so dass es aufgeht."

Seine Bologna-Kritik hat Stefan Kühl in seinem neuen Buch zusammengefasst: "Der Sudoku-Effekt. Hochschulen im Teufelskreis der Bürokratie. Eine Streitschrift".

Sein Vorschlag: "Die Bologna-Reform muss auf einen Bierdeckel passen. Die Essenz lautet: Europaweit gilt das zweistufige Studium mit einem ersten Abschluss nach frühestens drei Jahren. Alles andere soll Sache der Hochschule sein. Punkt."

"Die Kernideen von Bologna sind richtig", sagt der Präsident der Justus-Liebig-Universität Gießen, Prof. Dr. Joybrato Mukherjee. Der 39-Jährige ist der jüngste Präsident einer staatlichen Universität in Deutschlands. Gießen verfügt über die höchste Studentendichte, mit über 30.000 Studenten bei rund 75.000 Einwohnern.

"Wir haben zum ersten Mal wirklich verbindliche, standardisierte Inhalte, die auch festgeschrieben sind für die Lehrenden, für die Studierenden. Es gibt eine ganze Reihe von Missständen, die zu meiner Zeit in den geisteswissenschaftlichen Fächern und anderswo da gewesen sind, auf die Bologna zu Recht reagiert hat."

Heute drängten rund 47 Prozent eines Jahrgangs an die Hochschulen - allein in Gießen in diesem Jahr 6600. Die Fähigkeiten der Anfänger seien so unterschiedlich, dass nur eine stärkere Strukturierung des Studiums helfe. Durch die Reform sei das Studium transparenter und planbarer geworden, die Zahl der Abbrecher drastisch gesunken, die Absolventen auch nach ihrem Master deutlich jünger als früher. Joybrato Mukherjee weiß aber auch um die Kritik an Bologna und die Probleme aufgrund des größeren Andrangs. Seine Universität war in den letzten Jahren auch Schauplatz der Bildungsstreiks. Er setzt weiterhin auf Bologna, sieht aber auch Verbesserungsbedarf:

"Wir haben, glaube ich, mit einer typisch deutschen Gründlichkeit manches überreguliert in der Umsetzung. Und da gilt es, aus der Erfahrung der letzten Jahre wirklich ergebnisoffen zu lernen, daraus Schlussforderungen zu ziehen und an einigen Stellen auch Freiheitsgrade zurückzugewinnen - für die Lehrenden, aber vor allem auch für die Studierenden."

"Studieren in Deutschland - alles andere als exzellent?" Darüber diskutiert Dieter Kassel heute mit Prof. Dr. Stefan Kühl und Prof. Dr. Joybrato Mukherjee. Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der Telefonnummer 00800 2254 2254 oder per E-Mail unter gespraech@dradio.de.

Informationen im Internet:
Über Prof. Dr. Stefan Kühl
Über Prof. Dr. Joybrato Mukherjee

Literaturhinweis:
Stefan Kühl: Der Sudoku-Effekt. Hochschulen im Teufelskreis der Bürokratie. Eine Streitschrift, transcript-Verlag, 172 Seiten, Februar 2012