Strukturwandel im Fichtelgebirge

Mit Gesundheit und Öko-Energie aus der Krise

Blick auf den Fichtelsee
Nicht nur der Niedergang der Industrie, auch das Wegbleiben der Touristen machte der Region zu schaffen. © picture alliance / Nicolas Armer
Von Burkhard Schäfers · 02.05.2018
Noch vor wenigen Jahren herrschte im Fichtelgebirge Untergangsstimmung. Nach dem Niedergang der Textil- und Porzellanindustrie hofft die Region nun mit Gesundheitszentren, umgebauten Industriebrachen und Windrädern auf die wirtschaftliche Wende.
Abu Simbel, Olympia und der See Genezareth mitten im Fichtelgebirge: Stephan Gesell findet das passend, und deshalb ließ sich der Unternehmer in seiner Siebenquell-Therme von jahrtausendealten Badekulturen inspirieren: Ein Sand-Licht-Bad wie im alten Ägypten – oder ein Salzbecken, dem Toten Meer nachempfunden:
"Was wirkt, sind natürlich die Mineralien, die Therapieangebote. Aber ganz bewusst wollen wir den Gast in eine Zeitreise versetzen. Wir alle leben in einer Welt, wo wir glauben, das was gerade am Handy oder wo auch immer an Nachricht aufpoppt, ist das allerallerwichtigste."
Stephan Gesell führt durchs neue 65-Millionen-Euro-Projekt in seinem Heimatort Weißenstadt. Der Werdegang des 45-Jährigen ist außergewöhnlich: Mit 32 kündigt Gesell den sicheren Job als Bankkaufmann bei der Sparkasse, um in Tirol einen Crashkurs in Baumanagement und Gesundheits-Tourismus zu machen. Dann baut er im Fichtelgebirge ein Kurhotel mit 200 Betten. Fünf Jahre später kommt ein Hotel in Waren an der Müritz dazu, vor anderthalb Jahren dann die Siebenquell-Therme mit 1000 Quadratmetern Wasserfläche, Palmen und 250 Hotelbetten.
"Es hätte auch schief gehen können, und unternehmerische Tätigkeit, auch heute noch, ist immer ein Risiko. Das war nicht meine Lebensplanung. Aber man kann nicht in Sonntagsreden sagen, wir haben Zukunft, und dann wird es einem vor die Füße gelegt und man zieht den Schwanz ein. Ich hab’s bisher nicht bereut."

12.000 Arbeitsplätze gingen verloren

Stephan Gesell ist in Weißenstadt geboren. Er engagiert sich seit über 20 Jahren als Stadtrat, hätte sich vorstellen können, Bürgermeister zu werden. Obwohl um ihn herum kaum noch jemand an die Zukunft glaubte. Binnen weniger Jahre gingen im Landkreis – mit 75.000 Einwohnern – 12.000 Arbeitsplätze verloren! Existenzen brachen zusammen, viele zogen weg.
"2002, 2003 war in der Region Untergangsstimmung. Der starke Strukturwandel in der Textilindustrie, in der Porzellanindustrie – riesige Arbeitsplatzverluste. Das war seinerzeit der Startpunkt für mich zu sagen: Wir haben irre Potenzial, lasst uns diesen im wahrsten Sinne des Wortes Naturschatz heben, und die Entwicklung beginnen im Bereich des Gesundheitstourismus."
Der Unternehmer nutzt Radon-Vorkommen in Weißenstadt, um einwöchige Kuren für Selbstzahler anzubieten. Sein Hotel mit Blick auf den Weißenstädter See ist zu mehr als 90 Prozent ausgelastet – fast ausschließlich durch Rentner. Um auch jüngere Gäste anzusprechen, hatte Gesell die Idee mit der Erlebnis-Therme.
"Was durchaus gar nicht so erfolgversprechend war: Hier im Kristallin im Fichtelgebirge nach Thermalwasser zu bohren. Ich hab seinerzeit gesagt: Wir verbohren alle Bohrmeißel, die wir da haben, und dann schauen wir mal, was rauskommt. Und bei 1830 Metern haben wir die entscheidende Kluft angebohrt. Also wir haben ein ganz spannendes Heilwasser."

Vor der Wende bei Westberlinern beliebt

Das binnen eines Jahres immerhin 260.000 Besucher anzog. Zum Baden, saunieren – oder für Tagungen zum Thema betriebliches Gesundheitsmanagement.
65 Millionen Euro kostete der Bau der Therme, knapp 15 Millionen staatliche Fördermittel flossen in das Projekt. Es entstanden 140 neue Arbeitsplätze, zusätzlich zu den 100 Jobs im benachbarten Kurhotel. Der Unternehmer kam dabei ohne Großinvestoren aus.

"Ich bin wie ein Vertreter Klinkenputzen in Weißenstadt und in die Region gegangen. Hier im Siebenquell haben wir 130 Gesellschafter, die ich alle einzeln besucht und überzeugt habe."

Allerdings ist auch das mit den Touristen keine ganz einfache Geschichte im Fichtelgebirge. Früher, vor der Wende, war die Gegend beliebt bei Westberlinern, die für ihren Urlaub nicht allzu weit fahren wollten, erzählt der evangelische Pfarrer Peter Hirschberg:
"Dann stand die ganze Welt offen, und das hier war nicht mehr so interessant. Aber man hat immer noch Relikte, es gibt immer noch Berliner von anno dunnemals, die jetzt hier in dem Bereich leben."
Hirschberg leitet das kirchliche Netzwerk "Gemeinsam für die Region". Er meint, mit Wandern, Radfahren, Wintersport sei noch viel zu holen.
"Das könnte so ein wenig auch das Markenzeichen werden: Abseits der normalen Touristikrouten. Eine Landschaft, die touristisch erschlossen ist, aber auch nicht so erschlossen, dass man das Gefühl hat, man wird hier überrannt. Sondern dass man hier auch mal wieder zu sich selbst kommen kann."
Kurzentrum Weißenstadt am Weißenstädter See
Das Fichtelgebirge präsentiert sich als Rückzugsort für gestresste Menschen.© picture alliance / David Ebener

Wandern, Pilgern, Meditieren

Ein Thema, bei dem sich auch die Kirche berufen fühlt, am Imagewandel des Fichtelgebirges mitzuarbeiten, sagt der Theologe.
"Wir als Kirche merken ja auch immer mehr: Was die Menschen heute suchen ist einfach mal der Rückzug. So eine Art Burnout-Prophylaxe, kann man sagen. Wir haben viele Angebote, die in diese Richtung gehen: Naturwanderungen, Pilgern, Meditationen. Da bemühe ich mich, hier vor Ort mit den Touristikern Dinge zusammen zu entwickeln."
Dabei stehen viele Versuche ganz am Anfang. Etliche Gemeinden kämpfen mit zerfallenden Fabrikhallen, Brachflächen und leer stehenden Geschäften. Verschiedene Projekte – gefördert von EU, Bund und Land – sollen der Gegend auf die Beine helfen: Terrassengärten statt verlassener Häuser, ein Pflegeheim auf einem früheren Fabrik-Areal, ein Dorfladen, finanziert durch Anteilskäufe von Bürgern. Hier und da wird, wie in Selb, die Industriekultur bewusst erhalten:
"Das sogenannte Porzellanikon: Das ist auf der einen Seite diese alte Industrieanlage, die man angucken kann. Auf der anderen Seite eine wunderschöne Ausstellung mit Porzellan."
Nach Jahrzehnten der Abwanderung wurden im Fichtelgebirge zuletzt mehrere tausend neue Arbeitsplätze geschaffen – auch durch junge, kleine Unternehmen: Maschinenbauer, Auto-Zulieferer, Kunststoff-Betriebe.
"Gerade durch die Krisensituation hier entstand ein gewisser Innovationsdruck. Und es ist manchmal dann auch so ein Experimentierfeld für Leute, die mal was Neues machen wollen. Ich glaube, es hängt schon auch mit charismatischen Persönlichkeiten zusammen."

Nachhaltige Energie als Zukunftsprojekt

Wie Marco Krasser, den sie hier "Energie-Pionier" nennen. Binnen sieben Jahren stieg der Ingenieur vom Praktikanten zum Chef der Stadtwerke in Wunsiedel auf – und hatte erst neulich Vorstände von Siemens und Eon zu Besuch, die sich über das Thema dezentrale Energieversorgung schlau machen wollten.
"Für uns war das ein Ritterschlag, wenn uns erzählt wird: Jawoll, hier wird das gelebt, was die Zukunft eigentlich sein soll. Es ist überhaupt eine Ehre, wenn wir in Wunsiedel, einer Stadt mit knapp 10.000 Einwohnern, einen Siemens-Vorstand begrüßen können."
Die Zukunft – das heißt hier: Nachhaltige Energie. Keine fossilen Brennstoffe, sondern Strom und Wärme aus Holz, Wind, Gas und Sonne. Die Stadtwerke liefern ausschließlich Ökostrom. Am Stadtrand, etwas versteckt hinter Bäumen, steht auf dem Grundstück einer abgerissenen Porzellanfabrik ein großer Solarpark.
"Das ist gelebter Strukturwandel. Die alten, etablierten Industriezweige brechen weg und die neuen nutzen ihren Platz. Aber man muss es halt wollen und politisch auch antreiben. Wunsiedel war der Auslöser dafür, dass man sich über diese Industriebrachen Gedanken gemacht hat und ein separates Förderprogramm auch von Seiten des Freistaats aufgelegt hat."
Ein paar hundert Meter weiter steht eine Holzhackschnitzel-Fabrik – eine gemeinsame GmbH der Stadtwerke mit einem nahen Sägewerk und Waldbauern aus der Umgebung. So hat Marco Krasser in den vergangenen Jahren mehrere lokale Tochterfirmen gegründet – mit Beteiligung von Bürgern, regionalen Betrieben und Gemeinden. Zusammen haben die Unternehmen 150 Mitarbeiter. Seit 2011 flossen in Wunsiedel rund 80 Millionen Euro in erneuerbare Energien. Und gerade wächst ein weiteres Pelletwerk mit dazugehörigem Blockheizkraftwerk in den Himmel.

Pellets für 25.000 Häuser

"Hier entsteht eine neue Fabrikhalle mit neuen Gesellschaftern. Hier wird die Pelletproduktion nochmal erweitert um 100.000 Tonnen auf dann 130.000 Tonnen."
Das neue Werk kann künftig 25.000 Einfamilienhäuser mit Pellets fürs Heizen und Warmwasser versorgen.
"Letzten Endes schaffen wir es dadurch, die Wertschöpfung komplett in der Region zu halten: Vom Baum, der gepflanzt und umgesägt wird, bis zu den Brettern, die gesägt werden im Sägewerk vor Ort; und die Nebenprodukte Wipfelholz und Späne werden hier komplett der Vermarktung zugeführt."
Indes haben nicht alle sofort "Juhu" gerufen, als die Idee mit dem neuen Pelletwerk aufkam. Und tatsächlich sind die Kosten – bedingt durch volle Auftragsbücher im Baugewerbe – hochgegangen, sagt der Stadtwerke-Chef.
"Es ist ja nicht einfach in einer strukturschwachen Region. Ständig wird von der Rechtsaufsicht auf die Haushalte geguckt, ist ja logisch. Aber man versucht hier tatsächlich, das Geld in die Hand zu nehmen. Jede Bautätigkeit verursacht ja auch wieder notwendige Arbeitsplätze und wir haben eine sehr gute Baufirma am Ort, die die Halle im Millionenbereich hier hinstellt."

Keine Angst vor der Verspargelung der Landschaft

Neben Bio- und Sonnenenergie betreiben die Stadtwerke auf den Höhen des Fichtelgebirges zehn Windkrafträder. Große Proteste – Stichwort Verspargelung der Natur – seien ausgeblieben, sagt Marco Krasser.
"Wir haben gesagt, die Windmühlen kommen so oder so. Also irgendwelche Investoren werden die bauen. Wenn die Standorte lukrativ sind, warum machen wir es dann nicht selber – für uns, für unsere Bürger. Sie konnten sich finanziell beteiligen, wir verkaufen den Strom auch lokal. Von dem her wissen die Menschen, für was die Windmühlen stehen."
Wenige Kilometer südlich von Wunsiedel liegt Bad Alexandersbad – mit knapp 1000 Einwohnern das kleinste Heilbad Bayerns. Im Jahr 1734 stieß ein Bauer hier auf eisen- und kohlesäurehaltiges Heilwasser. Einige Jahrzehnte später, 1782, entstanden ein Kurhotel, Parks, Alleen und Spazierwege nach dem Vorbild berühmter Schlossanlagen. Im 19. Jahrhundert weilte die bessere Gesellschaft regelmäßig in Alexandersbad, um sich etwas zu gönnen – darunter der preußische König Friedrich Wilhelm III. und Königin Luise.
Auch später boomte der Ort dank vieler klassischer Kurgäste. In den 1970er-Jahren entstanden zwei gigantische Hotels mit mehr als 600 Betten. Aber mit der Gesundheitsreform in den 90er-Jahren blieben plötzlich die Besucher aus. Dem Heilbad ging der Betreiber flöten, ein Hotel stand teilweise leer, die Gemeinde musste sogar ihre Schlossterrassen wegen Baufälligkeit sperren.
"Die größte Kureinrichtung, das Kur- und Sporthotel mit 420 Betten, ist plötzlich Seniorenheim gewesen. Die Leuchtschrift, die früher weit ins Land hinaus gestrahlt hat, war abgeschalten. Und man hat sich tatsächlich geschämt."

Neuer Glanz in Alexandersbad

Peter Berek ist seit zehn Jahren Bürgermeister von Alexandersbad und zugleich Kurdirektor. In dieser Zeit hat sich der Ort deutlich verändert: Das marode Hotel haben sie abgerissen. Im Zentrum wurde vor einem Jahr ein neues Kurhaus eröffnet, über einen Glasbau verbunden mit dem historischen Kurhaus aus dem 19. Jahrhundert. Die Schlossterrassen gegenüber sind wieder belebt, mit neuem Rasen, Blumen und Wasserspielen.
"Man hat nach Jahren des Niedergangs gemerkt, so kann es nicht weitergehen. Und man hat vor allem gemerkt, dass es an die eigenen Werte rangeht: Dass es das eigene Geld auch kostet, den eigenen Arbeitsplatz, dass das eigene Grundstück weniger wert wird. Und dann hat sich hier, mit dem Instrument der sogenannten Dorferneuerung, ein Bürgerengagement entwickelt, das so, glaube ich, auch seinesgleichen sucht."
Erst neulich war eine Delegation chinesischer Politiker zu Gast, um sich in Sachen ländlicher Strukturwandel etwas abzuschauen. In Alexandersbad flossen 27 Millionen Euro in die Ortssanierung, mehr als drei Viertel davon Fördermittel.

Der Bürgermeister führt durchs neue Kurhaus: ein Fitnessstudio mit digital gesteuerten Geräten, schicke Physiotherapie-Räume, Moorwasser-Bäder, eine Sauna mit handgeschreinertem Ruheraum.
Auf dem Boden Eichenparkett und heimischer Granit statt Fliesen – Wellness statt Krankenhaus. Im Obergeschoss, mit großen Dachfenstern, das Schwimmbad.
"Wir spielen hier mit dem Thema Licht und Schatten. Wir haben ein Becken geschaffen, wo man an das Fenster schwimmen kann. Die Liegebereiche sind eben nicht in einer Halle untergebracht, sondern sind immer wieder mit Nischen versehen."
Das Heilwasser soll Durchblutung und Verdauung fördern. Eine Chance von Bad Alexandersbad sieht Peter Berek in der alternativen Medizin. Inzwischen gibt es einen Schwerpunkt Osteopathie: Mit Praxis und Fortbildungsakademie, sogar der Bundesverband Osteopathie hat sich hier niedergelassen.
"Ich würde unsere Aufgabe so verstehen, wie sie 1780 im Markgräflichen Schloss begonnen hat. Weg von der Reparatur-Kur hin zur vorsorgenden Kur. Und da glaube ich, dass wir als Gegenpart zum klassischen medizinischen Bereich eine ganz große Rolle spielen können. Also das ist für mich der Schwerpunkt von Bad Alexandersbad."
Schloss Alexandersbad
Einst waren die Terrassen von Schloss Alexandersbad verwaist. Mittlerweile wurden sie renoviert.© imago/imagebroker

Kinderbetreuung rund um die Uhr

Außergewöhnlich ist, dass der kleine Kurort eine Kinderbetreuung rund um die Uhr anbietet – auch nachts und am Wochenende, sagt Ursula Foerster, die das Kinderhaus Königin Luise leitet.
"Wir wollen das auch Eltern ermöglichen, die berufstätig sind und nicht nur die ganz normalen Arbeitszeiten haben, vielleicht früh um fünfe beginnen oder auch abends bis 21 Uhr arbeiten. Der andere Bereich ist für Kinder, deren Eltern Kur-Anwendungen haben oder deren Eltern Seminare besuchen. Und ihre Kinder können hier dann betreut werden."
Eine Kinderbetreuung über Nacht – ausgerechnet in der Provinz: Natürlich eckt der Bürgermeister von Alexandersbad auch an.
"Es gibt Situationen – und in einer solchen befindet sich der Landkreis Wunsiedel – da ist normal der falsche Weg. Man muss versuchen, anders zu sein: kleiner, größer, schneller, komischer, eigenartiger. Das ist natürlich damit verbunden, dass man ganz oft an die Grenzen des Systems stößt und auch hier und da Dinge ins Rollen bringt, die nicht gleich immer gewünscht werden."
Inzwischen wirbt das Fichtelgebirge in Großstädten für den Umzug aufs Land. Denn was nach dem Strukturwandel fehlt, sind qualifizierte Fachkräfte – ob in den Hotels von Tourismus-Unternehmer Stephan Gesell, beim Wunsiedler Öko-Energie-Pionier Marco Krasser oder im wieder erwachten Kurort Bad Alexandersbad.
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