Stoßrichtung nach Osten

16.06.2011
Im Mai 1939 bestellte Adolf Hitler die Führungsspitze der Wehrmacht in die Reichskanzlei und skizzierte seine Kriegspläne. Dass er bereits seit 1934 sehr konkret auch über einen Angriff gegen die Sowjetunion nachgedacht hatte, belegen neue Forschungen von Rolf-Dieter Müller.
Über Polen bemerkte der Diktator, das Land bilde keine ausreichende Barriere mehr gegen Russland. Die Option, das Land zu schonen, müsse entfallen. Anschließend sollten England und Frankreich angegriffen werden.

Eine Schlüsselszene auf dem Weg zum Zweiten Weltkrieg. Bislang ist sie in der historischen Forschung als konkretes Programm für einen deutschen Angriff im Westen gewertet worden. Ein Überfall auf die Sowjetunion lag demnach zu diesem Zeitpunkt nicht im Kalkül Hitlers. Er sei erst nach den schnellen Erfolgen des Jahres 1940 zur realen Option geworden. Der renommierte Potsdamer Militärhistoriker Rolf-Dieter Müller stellt diese Interpretation in seinem neuen Buch "Der Feind steht im Osten" grundlegend in Frage. Hitler plante demnach seit 1934 eine groß angelegte Militäraktion gegen die Sowjetunion – so die These, die Müller, gestützt auf zahlreiches, zum Teil noch unbekanntes Quellenmaterial, entwickelt.

Lange schwebte Hitler der Plan eines antisowjetischen Bündnisses mit Polen, Japan und möglicherweise sogar Großbritannien vor. Stalins Reich sollte an mehreren Fronten angegriffen werden. Mit der Hinwendung Polens zu den Westmächten im Frühjahr 1939 wurde diese Idee obsolet. Hitler "vertagte" gewissermaßen das – so Müller – eigentliche Ziel seines Krieges, schloss den Nichtangriffsplan mit Stalin und überfiel Polen.

Wie Rolf-Dieter Müller zeigt, gab es zu diesem Zeitpunkt auch in der Heeresführung konkrete Strategiepapiere für einen Krieg gegen die Sowjetunion. Generaladmiral Conrad Albrecht veröffentlichte im April 1939 eine entsprechende Studie. Die politische Zielsetzung mit der Stoßrichtung nach Osten könne nur gegen Russland verwirklicht werden, schrieb er darin. Das Land solle, als "wahrscheinlichster Kriegsgegner", von zwei möglichen Linien angegriffen werden – über Südosteuropa und Rumänien sowie über die baltischen Staaten.

Im Sommer 1940 wurden die Pläne wieder aufgenommen und, in einem kontroversen Entscheidungsprozess zwischen Reichskanzlei und Heeresleitung, konkretisiert. Generaloberst Franz Halder skizzierte eine Strategie, die zur Grundlage für die weiteren strategischen Überlegungen wurde. Die These, das "Unternehmen Barbarossa" sei erst bei einem Treffen Hitlers mit der Heeresleitung am 31. Juli 1940 beschlossen worden, weist Rolf-Dieter Müller als Mythos zurück. Seine wichtige und erhellende Studie verdeutlicht, dass der Krieg gegen die Sowjetunion eine viel längere Vorgeschichte hat. Und ebenso, dass die Führung der Wehrmacht entscheidend dazu beitrug, den deutschen Überfall vom 22. Juni 1941 vorzubereiten.

Für die historische Forschung eröffnet Müller ein neues Feld: Es ist Zeit für eine systematische Untersuchung der militärischen Funktionseliten in Deutschland vor und nach 1945, etwa in Analogie zu der großen Studie über das Auswärtige Amt. Die Frage nach der Mitverantwortung von Hitlers Generälen für den blutigsten und größten Krieg des 20. Jahrhunderts, auch nach ihren Vertuschungsstrategien nach dem Krieg, bedarf einer umfassenden Analyse.


Besprochen von Niels Beintker

Rolf-Dieter Müller: Der Feind steht im Osten. Hitlers geheime Pläne für einen Krieg gegen die Sowjetunion 1939
Ch. Links Verlag, Berlin 2011
296 Seiten, 29,90 Euro
Mehr zum Thema