Stimmliche Falten

Von Maria Riederer · 16.03.2012
Hier gibt es nur ein Aufnahmekriterium: Kein Sänger, keine Sängerin sollte jünger als 70 Jahre alt sein. Als der Chor 2010 gegründet wurde, war die Warteliste lang. Und doch wussten die Mitglieder in spe gar nicht, auf was sie sich eigentlich einließen. Denn der Chor ist ein "Experimentalchor".
"Ich bin gerade 70 geworden – ich hab mich aber gemeldet und hab gesagt, dass ich's noch nicht war, als es anfing. Jaja, da sagten sie, sie ließen sich keinen Ausweis zeigen, nein - also ich hab nicht gemogelt, aber jetzt bin ich rechtmäßig dabei."

"Da gibt es wirklich Chorleiter, die sagen: Aus Gründen der Qualitätssicherung nehmen wir... also, über 70 wird niemand mehr aufgenommen, und wir haben es ja jetzt so gemacht, aus Gründen der Qualitätssicherung muss man mindestens 70 sein, um bei uns mitsingen zu dürfen."

Der Komponist Bernhard König hat den "Experimentalchor Alte Stimmen" zusammen mit anderen Musikern gegründet. Der immense Zulauf kam für alle überraschend. Viele Sänger über 70 finden in anderen Chören keinen Platz mehr.

"Das merk ich zurzeit im Kirchenchor, dass man doch vom Alter her net mehr so ganz gefragt ist."

Dass ihre Stimme sich im Laufe der Jahre verändert hat, merken die Sänger selbst.

"Das ist auch bei den Frauen so, dass die Stimme tiefer wird. Ich hab früher 2. Sopran mitgesungen, aber heute bleib ich da ziemlich unten."

"Wir zwei singen Tenor. Das hat sich so ergeben. Irgendwann bin ich so tief gewesen, dass ich dann Tenor gesungen habe."

Der Ansatz des Experimentalchores ist aber, diese Veränderungen nicht als Defizit zu betrachten, sondern als Chance.

"Wie kann man das, was diese Stimmen besonders auszeichnet, ästhetisch so nutzen, dass es ein künstlerischer Gewinn ist. Jetzt nicht versuchen, möglichst glatt und möglichst gerade und möglichst sauber, das hohe g oder a zu singen sondern mal zu gucken, was können Sie denn, Frau Soundso mit Ihrer Stimme, was keiner außer Ihnen kann. Und das ist ganz viel. So wie diese Dame mit ihren 83 Jahren singt, kann jemand, der 30 oder 40 ist, nicht singen, weil ihm diese in der Stimme hörbare Lebenserfahrung fehlt. Weil ihm diese wunderschönen stimmlichen Falten fehlen."

Bernhard König ist Komponist. Er schreibt und arrangiert Stücke für seinen Chor. Mit ihm zusammen leiten die Sängerin Alexandra Naumann und die Musikerin und Musikpädagogin Ortrud Kegel den Kölner Chor. Sie improvisieren und experimentieren, lassen die Sänger und Sängerinnen aus sich herausgehen und in sich hineinhorchen - und ihre ganz persönliche Stimme finden.

"Das ist ne Umstellung, natürlich, man kommt aus der Volksmusik usw., große Werke - "Ans Werk" und so weiter, "Tod im Schacht" gesungen und jetzt hier diese Sache -, aber es ist interessant, mal sehen, was daraus wird. Und vor allen Dingen haben wir alle gelernt, Vertrauen zueinander zu haben und den Mut zu haben, das zu singen, was eben so anders ist, was wir bisher nicht gesungen haben und das find ich ein ganz großes Plus."

Die wenigsten Sänger und Sängerinnen haben die Flucht ergriffen, als sie merkten, dass dies hier kein normaler Chor mit klassischem Repertoire ist. Alexandra Naumann freut sich über die Offenheit der Sänger.

"Man sieht schon mal skeptische Gesichter, es wird auch mal gelacht, weil man sich bisschen schämt, aber ich würde sagen, die Grundstimmung in diesem Chor ist so gut derzeit, dass es einfach nur ein großes Vergnügen ist."

"Ich hatte eigentlich große Angst, mich hier einzubringen und bin eigentlich immer nur als Chauffeur mitgefahren, bis es mich irgendwann erwischt hat. Weil da werden wir richtig locker gemacht und da müssen wir auch nicht Angst haben, mal falsch zu singen."

Als Versuchskaninchen oder Spielwiese für experimentelle Musiker fühlt sich hier keiner. Das hat vor allem mit dem Umgang der jungen Chorleiter mit ihren alten Sängern zu tun.

"Es ist ein großes Glück, denn das sind drei hochprofessionelle Leute, die sich auch wunderbar ergänzen, und ich bin da absolut glücklich und begeistert."

Umgekehrt ist deutlich zu spüren, dass auch die Chorleiter von ihrer Arbeit mit den alten Sängern vieles mitnehmen.

"Was mich vor allem rührt an einer älter werdenden Stimme, ist die Expressivität, ist das gelebte Leben, was man hören kann, sind die Geschichten, die damit erzählt werden, das fängt beim gesprochenen Wort an, aber kann auch bei einem etwas anders gesungenen Lied durchaus zur Geltung kommen, und da sind gerade die Brüche und diese Übergänge für mich wahnsinnig spannend und ausdrucksstark."

Das Projekt "Mein Lied", an dem der Chor gerade arbeitet, will diesen Biografien zum Ausdruck durch Klänge verhelfen.

"Was wir gemacht haben ist, dass wir die Choristen und Choristinnen gebeten haben, uns biografische Episoden aufzuschreiben, die mit einem bestimmten Lied oder einem bestimmten Musikstück verknüpft sind. Und auf dieser Grundlage versuchen wir jetzt neue Kompositionen neu zu erfinden, neu zu schreiben, in die diese biografischen Aspekte mit einfließen."

"In unserem Alter, wir sind alle über 70, haben den Krieg erlebt und viele sind geflohen oder haben ein ganz hartes Schicksal hinter sich und haben nun hier sowas wie eine menschliche Heimat auch gefunden - abgesehen vom Singen."

In weniger als eineinhalb Jahren hat der Chor schon mehrere Auftritte bestritten. Im Repertoire haben sie ein Sprech-Sing-Stück über die Nachrichten des Tages, einen witzigen Tango zur Diskriminierung alter Sänger, vertonte Haikus und jazzige Titel. Wenn der Chor "Autum leaves" zum Besten gibt, dann rascheln die welken Blätter, Erinnerungen an alte Zeiten wehen durch den Saal, und dann swingen die Damen und Herren über 70 mit viel Schmiss durch ihren Lebensherbst.


Immer mehr Menschen in Deutschland singen im Chor. In Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft deutscher Chorverbände (ADC)stellt Deutschlandradio Kultur jeden Freitag um 10:50 Uhr im Profil Laienchöre aus der ganzen Republik vor: Im "Chor der Woche" sollen nicht die großen, bekannten Chöre im Vordergrund stehen, sondern die Vielfalt der "normalen" Chöre in allen Teilen unseres Landes: mit Sängern und Sängerinnen jeden Alters, mit allen Variationen des Repertoires, ob geistlich oder weltlich, ob klassisch oder Pop, Gospel oder Jazz und in jeder Formation und Größe.