Stilles Örtchen

03.03.2011
Wenn man dieses Wort in den Mund nimmt, dann meistens als Fluch. Der Berliner Autor Florian Werner hat sich über ein Thema gebeugt, das jeden Menschen tagtäglich beschäftigt. Es geht um den Stuhlgang - um "Dunkle Materie - die Geschichte der Scheiße".
Nein, dies ist kein mit akademischen Asbestfasern geruchsfest gemachter Traktat über einen Stoff, der zum Himmel stinkt - wie zum Beispiel John Gregory Bourkes "Buch des Unrats" von 1891 oder noch knapp neunzig Jahre später "Die gelehrte Geschichte der Scheiße" von Dominique Laporte (1978). Beides Klassiker, aber Minderheitenlektüre.

Denn einerseits kann der 1971 geborene Berliner Kulturwissenschaftler - pardon! - flott schreiben. Und zweitens ist Buch weit mehr als "die Geschichte der Scheiße". Es ist eine Enzyklopädie der verschiedensten Assoziationen mit diesem Tabu-Stoff - aus Biologie, Chemie, Physiologie, Psychologie, Geschichte, Politik, Linguistik, Ökonomie, Ökologie, Parfümologie, Philosophie, Religion, Künsten, aus dem Alltagsleben und dessen Sprachen – kurz: erbaulicher, entspannter Ritt durch die Gedärme des Menschseins.

Der Titel stammt aus der Astrophysik: Dunkle Materie ist die umwitterte kalte oder heiße Masse, die sich nur durch ihre Wirkung auf die leuchtende Materie bemerkbar macht. Eine Art Un-Materie, etwas Dunkles, das irgendwo sein muss, denn nur dadurch wird das Helle hell. Wieso es als Modell für homo sapiens taugt, macht Werner vom ersten Satz an klar: "Die menschliche Kultur gründet auf Scheiße. Nicht nur, weil unsere Städte … sich über gigantischen Abwassersystemen erheben. Nicht nur, weil unser Stoffwechsel … ohne die Ausscheidung von Exkrementen gar nicht möglich wäre. Sondern weil wir erst durch die Abgrenzung von der Scheiße wissen, was Kultur überhaupt ist."

Die Abgrenzung beginnt bekanntlich schon bei der Geburt "zwischen Kot und Urin" und endet erst im Tod, der uns wiederum in einen tabuisierten Zustand der "Unreinheit" und "Nutzlosigkeit" versetzt. Dazwischen liegt das Leben, und das besteht auch im übertragenen Sinn aus jeder Menge Mist, der irgendwie aus dem Weg geräumt werden muss. Dummerweise ist aber gerade Tabuisiertes extrem resistent. Scheiße geht nicht weg, bloß weil wir ihr gegenüber Ekel entwickeln. Sie ergießt sich stinkend hinterrücks gerade aus den heiligsten, reinsten Refugien und also immer wieder in sie hinein.

Werner seziert all die verborgenen oder offenen, jedenfalls innigen Beziehungen der Scheiße mit Gott und dem Teufel, mit Gold/Geld, Kunst, Lust, Sex, Macht. Er schreibt und zitiert unverdrucksten Klartext: von Defäkation bis zum shit-talkin' der Rapper, von Rabelais, Eulenspiegel, Luther über Samuel Pepys, Goethe, Mozart bis zu Freud, Bataille und TV-Serien.

Und immer wieder tritt der russische Theoretiker des Karnevals Michail Bachtin auf, logisch, denn mit dem uralten anarchischen Traumpaar Scheiße & Komik unterhält Florian Werner zum Glück eine ähnliche amour fou wie mit der "Grammatophagie", also dem Fressen, Verdauen und Ausscheiden literarischer Materie, vulgo: Lesen und Schreiben.

Und so erklärt er uns am Ende ganz nebenbei das Phänomen der Logorrhoe im Internet: Bücherfressende und neue Texte ausscheidende Leser sind heute nicht mehr nur ein paar Profis, sondern jeder zweite Blogger. Aber selbst mit dem Totalverzicht auf "Wörterverzehr" entkäme man der Scheiße nicht. Er führt nur zu Mangelerscheinung und die schließlich zum Tod. Und im Sterben wiederum "gebären wir häufig noch ein finales Häuflein".

Besprochen von Pieke Biermann

Florian Werner: Dunkle Materie - Die Geschichte der Scheiße
Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2011
238 Seiten, 18,90 Euro
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