Stille Melancholiker als Helden

Von Jörg Plath · 13.06.2005
Die Helden des Ungarn László Krasznahorkai sind allesamt stille Melancholiker, denen sich unverhofft eine Pforte des Alltags zur Metaphysik öffnet. Seit dem Roman "Der Gefangene von Urga" von 1992 liegt diese Pforte in Asien, wo für Europa traditionell das Andere beheimatet ist. Auch Krasznahorkais neues Buch "Im Norden ein Berg, im Süden ein See, im Westen Wege, im Osten ein Fluss" spielt in Japan.
Es firmiert als Roman, doch handelt es sich eher um eine Meditation, um Wortmusik, um eine strenge und zugleich schwebende, philosophische und sinnliche, sogar komische Evokation eines unwahrscheinlichen Ereignisses. Es ist die Beschwörung einer Pforte, die sich auch für den Leser öffnet, lässt er sich nur auf dieses leicht zu lesende und schwer zu fassende Buch ein.

Wovon wird in langen mäandernden Sätzen erzählt? Der Enkel des Prinzen Genji steigt in einem Vorort von Kyoto aus dem Schnellzug aus und geht durch seltsam verlassene Gassen einen Berg hinauf zu einer Mauer, an der entlang er erst zu einem Gingko-Baum, dann zu einer Brücke über eine Schlucht und schließlich zu einem Kloster kommt. Er ist von Sehnsucht nach einem wunderbaren, jedoch unauffindbaren Garten erfüllt, von dem er in einem Buch gelesen hat.

Das Kloster ist unversehrt, aber verlassen. Den Enkel des Prinzen Genji überkommt eine Ohnmacht, er findet Zuflucht in einem Bücherpavillon und geht achtlos an einem unscheinbaren Hof vorüber, in dem der gesuchte wunderbare Garten liegt. Acht Hinokizypressen stehen dort auf einem schimmernden Moosbett. Als der Enkel des Prinzen Genji wieder unten an der Bahnstation steht, blickt er zurück, kann aber den Berg nicht mehr erkennen, ebensowenig wie die Gassen, die er genommen hat. Alles ist anders. Die Pforte hat sich geschlossen.

Im Kloster hat der Enkel des Prinzen Genji – mit diesem Prinzen spielt Krasznahorkai auf den bedeutendsten höfischen Gesellschaftsroman des 11. Jahrhunderts an – die Zeichen der Zerstörung nicht übersehen: Der Bücherpavillon ist außen von Flammen angesengt, in ihm ist ein Regal mit kostbaren Schriften umgestürzt worden. Der Buddha im Heiligtum wendet "den Kopf auf das entschiedenste" von dieser "miesen Welt" ab, und in den chaotischen Privaträumen des Abts liegt ein Buch mit dem Titel "Das Unendliche, ein Irrtum" aufgeschlagen auf dem Bett. Unverkennbar ist dieses Kloster aus einer heillosen Welt und dazu angetan, den Glauben an jede andere zu erschüttern.

Dennoch birgt es in seinem Inneren den unentdeckten wunderbaren Garten, und Krasznahorkai wird nicht müde, vom "Wunder" seiner Existenz zu erzählen. So, wie er den perfekten Platz des Klosters würdigt, der durch den Titel "Im Norden ein Berg, im Süden ein See, im Westen Wege, im Osten ein Fluss" beschrieben wird, und so, wie er dem Sachverstand bei der Auswahl der Hinokizypressen für den Bau des Klosters huldigt, so zählt er die an der Entstehung des Gartens beteiligten Umstände auf.

Es sind nicht nur die Winde, die den Samen der acht Hinokizypressen aus China herangeweht haben, es ist letztlich die "Arbeit von Jahrmillionen", die "jenen einzelnen, unwiederholbaren Augenblick des Gartens" hervorgebracht haben, auch jenen, in dem der Enkel des Prinzen Genji an ihm vorübergeht. Die Schönheit des Gartens ist ein Konzentrat – nicht anders als Krasznahorkais Buch, das von der minimalistischen japanischen Ästhetik beeinflusst ist, mit dem zweiten Kapitel beginnt und einen allwissenden Erzähler besitzt. Rätsel solcher Art lassen es lange nachwirken.

László Krasznahorkai: Im Norden ein Berg, im Süden ein See, im Westen Wege, im Osten ein Fluss
Aus dem Ungarischen von Christina Viragh.
Ammann Verlag. Zürich 2005.
154 S., 18,90 Euro.