Stille Helden im Dritten Reich

Von Maximilian Preisler · 27.09.2006
Um die Ecke des Berliner Touristenmagneten Hackesche Höfe stößt man auf das Haus Rosenthaler Straße 39. Hier soll in der ehemaligen Blindenwerkstatt Otto Weidt demnächst ein Museum und eine Gedenkstätte geschaffen werden für alle jene mutigen Menschen, die anderen, Juden zumeist, in der NS-Zeit geholfen haben zu überleben. Man nennt sie "Stille Helden".
Durch Zufall erfuhr eine Studentengruppe vom Fachbereich Museumskunde der Berliner Fachhochschule für Wirtschaft und Technik von den Räumen in der Rosenthaler Straße 39. Hier war die Blindenwerkstatt Otto Weidt untergebracht - der Ort, an dem über 30 blinde Juden bis 1943 vor der Deportation und Ermordung durch die Nazis sicher waren. Die Werkstatt hat alle Stürme überlebt, ist noch so wie sie vor jetzt über 60 Jahren ausgesehen hat, selbst die damaligen Tapeten hängen noch an der Wand. Ein authentischer Ort, der unbedingt erhalten werden sollte.

"Mein Name ist Ariane Kwasigroch, ich bin Museologin und für das Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt tätig.Ich habe als Diplomarbeit mich schon mit der Blindenwerkstatt Otto Weidt beschäftigt, wir haben dieses Projekt, die Ausstellung als Abschlussprojekt in dem Studiengang vorbereitet und in unserer Diplomarbeit, die ich zusammen mit Herrn Kruzs verfasst habe, haben wir versucht die Ausstellung in der Blindenwerkstatt in der Gedenkstätten-Landschaft in Berlin einzuordnen."

Zu dieser "Landschaft" gehört die Rosenthaler 39 bereits jetzt. Im renovierten Seitenflügel hat das Anne Frank Zentrum für seine pädagogische Arbeit einen Platz gefunden, im Mittelpunkt wird, ab Ende November, Anfang Dezember, nach einer gründlichen Renovierung das Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt erneut öffnen und den großen Rahmen wird dann später eine dritte, ganz neue Institution liefern, die den Namen "Gedenkstätte Stille Helden" tragen wird.

Wann dort die Pforten geöffnet werden? Johannes Tuchel, der Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, unter dessen Fittichen die "Stillen Helden" stehen, kann, da noch umfassend saniert wird, nur eine "weiche" Antwort geben: 2007, spätestens 2008. Gibt es etwa finanzielle Engpässe? Nein, beruhigt Professor Tuchel, Bund und Land sind sich ihrer Aufgabe bewusst. In offiziellem Wortlaut:

"Das Projekt wird gefördert von dem Beauftragten des Bundes für Kultur und Medien, von der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Berlin und vom Europäischen Fonds für regionale Entwicklung."

Auch wenn der Schwerpunkt der neuen Gedenkstätte der Großraum Berlin sein wird, denn die meisten Helfer lebten in Berlin, so wird der geographische Rahmen viel weiter gespannt sein. Geschichten aus allen Regionen werden einbezogen sein, von der Nord- und Ostsee bis hinunter nach Bayern, Deutschland eben in den Grenzen von 1937.

Bis auf eine Aktion in den 50er Jahren, als im Westteil Berlins "unbesungene Helden" geehrt wurden, blieb es still um die Menschen, die verfolgten Juden halfen. Einige blieben stumm, weil sie bescheiden waren, andere weil man ihnen nach dem Krieg keineswegs immer nur achtungsvoll begegnete, wieder andere stießen mit ihren Geschichten auf Mitbürger, die ihre Geschichten anzweifelten. Manchmal, so auch im Fall von Otto Weidt, der bereits 1947 starb, bedurfte es des "Umwegs" über die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, um auf solche "Gerechte der Völker"" aufmerksam zu machen.

Der Grund hierfür lag wohl vor allem an der unter Historikern und Politikern heftig umstrittenen Frage, wer alles zum "Widerstand" zählte. Standen im Westen hierbei die Männer des 20. Juli und der christliche Widerstand im Mittelpunkt, bildete in der DDR die Erinnerung an den Widerstand der Kommunisten eine Säule des staatlichen Selbstverständnisses. Der Widerstand von "kleinen Leuten" fand weder hier noch dort einen Platz. Das begann sich erst in den 80er Jahre langsam zu ändern.

Gegen vielfältigen Widerstand gelang es dann erst 1993 eine Tafel an der Hauswand der Rosenthalter 39 anzubringen, die heute im Torbogen des "Hauses Schwarzenberg", so wird die Rosenthaler 39 auch genannt, liegt.

"Hier arbeiteten vornehmlich jüdische Blinde und Taubstumme. Unter Einsatz seines Lebens beschützte Weidt sie und tat alles, um sie vor dem sicheren Tod zu retten. Mehrere Menschen verdanken ihm ihr Leben."

Die vage Aussage "mehrere Mensche verdanken ihm ihr Leben" kann inzwischen präzisiert werden. Fotos aus jenen Jahren sind aufgetaucht, bisher unzugängliche Archive konnten benutzt werden, unter der Leitung von Prof. Wolfgang Benz gab es zwischen 1997 und 2002 im Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin ein Forschungsprojekt zur Rettung von Juden, überraschend tauchten zusätzliche Zeitzeugen auf, die Quellen sprudelten allmählich stärker.

Kwasigroch: "Wir haben dann auch schnell Kontakt zu Inge Deutschkron gefunden, die als Zeitzeugin auch hier in Berlin lebt. Sie hat dort gearbeitet, und sie war gleich Feuer und Flamme, dass junge Leute sich mit ihrer Geschichte auch beschäftigen wollen und diesen Ort der Öffentlichkeit wieder zugänglich machen wollen."

Inge Deutschkron überlebte die Nazi-Verfolgung. Nach dem Krieg arbeitete sie publizistisch, sie veröffentlichte ein ungemein erfolgreiches Erinnerungsbuch "Ich trug den gelben Stern" und das Kinder- und Jugendtheater Grips formte nach Szenen aus ihrem Leben das viel besuchte Theaterstück "Ab heute heißt du Sara". Auch nach vielen Jahren ist das erste Treffen mit Otto Weidt tief in ihrem Gedächtnis verankert.

Inge Deutschkron: "Man hatte mir gesagt, dies ist einer der anständigen Arbeitgeber. Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, wir durften uns ja eigentlich keine Arbeit suchen, da gab es ja dieses besondere Arbeitsamt für Juden in der Fontanepromenade. Und jemand von der jüdischen Gemeinde sagte mir: Es gibt ein paar anständige Arbeitgeber, versuch' mal, der Weidt kann manches machen. Na, habe ich gedacht, das lohnt sich ja schon mal hinzugehen. Und ich ging dann diese knarrende Treppe rauf, die ja auch, na, heute wird sie nicht mehr knarren, wir bauen ja um, aber damals knarrte sie. Ich dachte, was wird das sein? Und da saß dieser Mann, und man hatte mir vorher gesagt, dass er blind ist. Ich sah das nicht. Ich hatte das Gefühl, er guckt mich durchdringend an. Mit ganz klaren, blauen Augen, sehr hager, so die Furchen ziemlich tief im Gesicht, und ganz schmal. Und wahnsinnig nett. Sagte nur: "Erzählen Sie mal, wo kommen Sie her, wer sind Sie?" Und ich erzählte und erzählte von meiner Familie, dass wir also Sozialdemokraten waren, und so bin ich aufgewachsen und so. Und das hat ihn offensichtlich sehr interessiert. Er fragte mehr danach und nach Einzelheiten. Und dann sagte er, also sie wollen bei mir arbeiten, das ist gar nicht so einfach. Aber wir werden es versuchen. Kommen Sie morgen früh in die Fontanepromenade und da werden wir mal sehen, was wir machen können."

Kwasigroch: "Otto Weidt war eigentlich ein sehr einfacher Mann, er kam aus einer eher ärmlichen Familie und ist in den 20er Jahren hier in Berlin gestrandet, um einiges auszuprobieren. Er hat alles mögliche gemacht. Er ist dann selber erblindet und kam dann zum Bürstenhandwerk. Und somit kam wahrscheinlich für ihn die Idee, eine Bürstenwerkstatt aufzumachen. Die hat er zunächst in Kreuzberg eröffnet und ist dann 1940 nach Mitte umgezogen, in die Rosenthaler Straße. Und er hat viele jüdische Angestellte damals gehabt, die wurden ihm zum Teil zwangsvermittelt, zum Teil hatte er auch Wehrmachtsaufträge und konnte so lange Zeit auch seine Arbeiter vor der Deportation schützen. Aber nur zu einem gewissen Grad. Er hat dann aber auch versucht, illegal seine Arbeiter und Arbeiterinnen zu schützen. Er hat dann versucht, Papiere zu fälschen und hat dann schließlich auch Verstecke gesucht, um sie vor der Deportation zu schützen. Auch in der Blindenwerkstatt gab es so ein Versteck, der auch Teil der Ausstellung ist."

Bis zum Februar 1943 konnte Otto Weidt "seinen Juden" Schutz anbieten, er hatte es erreicht, dass seine Bürstenwerkstatt als wehrwichtiger Betrieb anerkannt wurde, er hatte Gestapo-Beamte bestochen und er nutzte seine weitverzweigten Verbindungen in allen Teilen der Gesellschaft aus.

Kwasigroch: "Otto Weidt hatte Kontakt zum Beispiel zum Polizeirevier in der Nachbarschaft, die gestempelt haben, die illegale Papiere sozusagen legalisiert haben. Es gab Kontakte zu Prostituierten, die auch Verstecke organisiert haben und zur Bekennenden Kirche, also es ist wirklich ein weites Netzwerk entstanden über die Jahre, das man sich aber eher lose vorstellen muss. Es war keine organisierte Gruppe in dem Sinne, sondern die Leute hatten schon Kontakt, und es wurden immer mal Leute auch hin und hergeschoben, von Versteck zu Versteck."

Nach dem Kriegsbeginn im September 1939 saßen Inge Deutschkron und ihre Mutter in der Falle. Sie waren, wie so viele andere Juden, die gehofft hatten, ein Ausreisevisum zu erhalten, nun, da keine Möglichkeit der Emigration mehr offen stand, auf Gedeih und Verderb dem Nazi-Regime ausgeliefert. Die Diskriminierung, die Drangsalierung der Juden nahm immer mehr zu, die ersten Deportationszüge rollten am 18. Oktober 1941 in den "Osten". Und wusste man auch nicht über alle Einzelheiten der Vernichtungslager Bescheid, war doch klar, dass sich hinter dem harmlos klingenden Begriff "Abwanderung" etwas Furchtbares verbarg. Es waren die kleinen Leute, die den verzweifelten Juden in jenen Tagen beistanden. Wie etwa das Ehepaar Gumz.

Inge Deutschkron: "Ich muss dazu sagen, die Initiative zum Untertauchen kam nicht von uns. Die kam von dem Ehepaar Gumz, das waren Inhaber einer Wäscherei in der Knesebeckstraße 17, die seit 1933 unsere Wäsche gewaschen hatten, die unglaublich Anti-Nazi waren, es gab kaum jemand, na ja, außer Otto Weidt, glaube ich, waren sie jene, die am schlimmsten wohl irgendwo hassten. Sie hatten sehr viele jüdische Kundschaft, hörten also, was alles so passierte, und diese Frau kam eines Tages zu meiner Mutter und sagte, Frau Deutschkron, sie müssen mir was versprechen. Und meine Mutter hat gesagt, ja, was soll ich denn versprechen? Sagt die Frau, saach ich Ihnen nicht. Das war ja eine ganz einfache Frau. Meine Mutter sagte, aber ich kann doch nicht etwas versprechen, wenn ich nicht weiß, was es ist. Und dann lachte die Frau, das müssen Sie aber, denn ich habe Angst, wenn ich es Ihnen sage, und Sie werden es nicht versprechen. Und da hat meine Mutter gesagt, na schön, ich verspreche es. Was habe ich jetzt versprochen? Und da hat Frau Gumz gesagt, dass Inge und Sie sich nicht deportieren lassen, mein Mann und ich haben beschlossen, wir verstecken Sie, Sie kommen zu uns. Das war die Initiative dieser Leute. Und wir haben dann lange darüber nachgedacht denn, wissen Sie, so einfach ist die Idee ja doch auch nicht. Meine Mutter war ja auch nicht mehr ganz jung, nicht? Ich war sehr jung und abenteuerlustig, natürlich."

Die genaue Zahl ist unbekannt, doch man geht davon aus, dass über 1500 untergetauchte Juden in Berlin die Verfolgung überlebten, Inge Deutschkron und ihre Mutter gehörten dazu. Ab Ende 1942 waren sie "untergetaucht". Hier in der Hauptstadt war die Gefahr nicht so groß, durch Zufall entdeckt zu werden.

Aber auch in anderen Teilen Deutschlands gab es "U-Boote", wie sich die Untergetauchten selbstironisch nannten. In Frankfurt am Main gehörte Maria Fulda zu jenen, die in die Illegalität gingen. Sie verdankte ihr Leben einer Bekannten: Irene Block. Barbara Schieb von der Gedenkstätte deutscher Widerstand, eine der beiden Projektleiterinnen der zukünftigen Gedenkstätte, führte bereits 1987 ein Gespräch mit Irene Block. Dabei erinnerte sich Irene Block, dass jüdische Freunde sie zuerst schnitten, als sie Adolf Hitlers "Mein Kampf" las. Aber nur deshalb konnte sie sagen:

"'Ich habe es gewusst. Natürlich nicht so konkret, aber ich habe gewusst, was das für eine Politik sein wird', und sie hat sich ganz dezidiert auf ein kleines Spezialgebiet spezialisiert, sie hat sich hier in Frankfurt in einer eigenen Praxis niedergelassen und hatte ganz viele jüdischen Klienten, die mit Auswanderung und mit ihren ganzen finanziellen und Steuergeschichten beraten hat. Und so war sie bekannt im jüdischen Milieu, dass sie eine gute Deutsche war, die auch Möglichkeiten hatte zu helfen. Sie hat zum Beispiel Zeitungen abonniert, Juden durften keine Zeitungen mehr haben. Sie hat sich 20 Stück abonniert, ihre Klienten konnten kommen und sich jeden Tag eine abholen. Zum Beispiel. Eine kleine Heldentat."

Eine große Heldentat dann ihre Hilfe für eine jüdische Bekannte, Maria Fulda, eine Bildhauerin. Zuerst wollte Frau Fulda nicht untertauchen.

Schieb: "Aber Frau Block hat gesagt, das musst du jetzt machen, sonst passiert was Schlimmes und du wirst nicht überleben. Und das hat sie organisiert."

"Im Grunde war es ein spontaner Entschluss. Am letzten Tag, als Frau Fulda schon die Aufforderung zur Deportation erhalten hatte. Ich bin morgens früh hin zu ihr, um mich zu verabschieden. Und da war noch eine andere Frau da, eine Schauspielerin, die wollte sich ebenfalls verabschieden, sie kam heimlich. Man konnte ja nicht so direkt in das Judenhaus gehen. Und diese Schauspielerin fing an, auf den Hitler zu schimpfen, dass man das zulassen muss, dass Frau Fulda jetzt fort muss. Und auf einmal habe ich gesagt: "Gib du Deine Lebensmittelkarten her. Ich trenne den Stern ab. Und zu Frau Fulda sagte ich: Du verabschiedest dich von den Leuten und sagst, du hättest noch was zu erledigen und in einer Viertelstunde kämst du auf den Platz."

Auf dem Lande, im oberhessischen Ziegenhain, hatte Frau Block schon seit längerem ein Zimmer gemietet, das kam ihr nun zupass.

"Ich habe also die Frau Fulda bis Ziegenhain gebracht. Und dort habe ich der Vermieterin gesagt, ich muss jetzt das Zimmer haben, hier ist meine Tante, die kommt aus Berlin. Sie hat einen Nervenzusammenbruch gehabt, weil sie alles verloren hat. Sie wird wohl in den nächsten Tagen nichts sprechen, geben Sie ihr jeden Mittag einen Teller Suppe. Ich fahre wieder zurück nach Frankfurt. Ich bin also nachts noch zu dieser Schauspielerin gegangen und ich habe sie gefragt: Hast Du alles erledigt? Sie saß auf dem Bett und neben ihr saß ihre beste Freundin. Und da lag auch die jüdische Kennkarte von Frau Fulda, die hätte sie eigentlich vernichten sollen. Der besten Freundin hatte sie natürlich alles erzählt, und die hatte nun wieder nichts Eiligeres zu tun, als es ihrem Mann zu schreiben, der in Russland war. Das habe ich aber erst später erfahren. Ich sagte zu Ihr: "Gib mir die jüdische Kennkarte, ich geh' jetzt dahin und schmeiß sie in den Main. Das habe ich auch gemacht und dann bin ich nach Hause gewackelt."

Wusste Sie, auf was sie sich da einließ? War sie sich der Gefahren bewusst? Irene Block erinnerte sich im Gespräch mit der Historikerin Barbara Schieb an jene angstvollen Tage.

"Ich habe nicht gewusst, was im Lager passieren würde, aber ich wusste, dass ich entweder gehenkt würde oder dass eben mein Leben zu Ende ist. Das wusste ich eigentlich immer. Wenn das rauskommt. Wir haben damit gerechnet, zu 90 Prozent. Aber mit zehn Prozent denkt man immer, man kommt drum rum."

Menschen, die helfen wollten, taten das auf unterschiedliche Weise. Sie steckten Flüchtenden Lebensmittelkarten zu, sie halfen mit warmer Kleidung aus, stellten - für eine Nacht oder länger - ein Bett bereit. Eugen Friede, der den Krieg im Versteck bei einer Familie im Brandenburgischen, in Luckenwalde bei Berlin überlebte, ist sich sicher, es waren die einfachen Menschen aus der Nachbarschaft, denen er sein Leben verdankt, dem kleinen Angestellten beim Gericht, dem Metzger, dem Kantinenwirt, und Inge Deutschkron weist die Frage nach dem "typischen Helfer" zurück.

"Gemeinsam hatten sie die Gefühle der Menschlichkeit, allesamt. Es sind unterschiedliche Motive. Also in dem Fall von Dr. Ostrowski, den ich eben genannt habe, war es sehr stark politisch motiviert."

Otto Ostrowski, vor '33 Bezirksbürgermeister von Prenzlauer Berg, führender Berliner Sozialdemokrat. Nach dem Krieg für kurze Zeit Oberbürgermeister von Berlin.

Inge Deutschkron: "Die alten Sozialdemokraten, und wahrscheinlich auch die Kommunisten, also alle, die Gegner von Hitler gewesen sind, die haben sich nicht gewandelt. Die waren weiter Anti-Nazi. Und die haben keine Gelegenheit gehabt, diesen Widerstand oder diese Gesinnung auszudrücken. Das war ja hier eine Diktatur, man konnte nicht ausdrücken, was man wollte. Man muss allerdings auch noch hinzusetzen, Widerstand war ja doch nicht sehr groß in diesem Land. Und außerdem irrsinnig gefährlich, natürlich, denn wir wissen ja, wie viele Leute in den Konzentrationslagern dann auch umgekommen sind und so, und das wäre die Folge gewesen, unter Umständen, wenn man die Leute gekriegt hätte. Aber hier: Juden verstecken war ja auch Widerstand. Und das ist meines Erachtens die politische Motivation bei Ostrowski gewesen. Wobei ich immer wieder sagen muss, Menschlichkeit hat natürlich mitgespielt. In anderen Fällen, also bei der Familie Gumz, der Mann war Zeuge Jehovas. Das hatte natürlich auch damit zu tun. Er hat immer gesagt, einen Satz gesagt, den ich nie vergessen werde, dieser Krieg, also nach diesem Krieg werden nur so viele Leute überleben, die unter einem Lindenbaum Platz haben."

Im Konzept der beiden Leiterinnen der Gedenkstätte "Stille Helden" steht an erster Stelle der Reichtum und die Vielfalt der Fälle und der Geschichten von Rettungen, von gelungenen Aktionen und von fehlgeschlagenen Versuchen. Es werden viele einzelne Geschichten in der zukünftigen Gedenkstätte erzählt werden. Vielleicht ist das das Gemeinsame - die Unterschiedlichkeit der Fälle, eine Unterschiedlichkeit, die es nahe legt, auf einzelne Lebensgeschichten einzugehen. Warum aber so spät? Erst jetzt, 60 Jahre nach dem Ende des Krieges?

Schieb: "Die Idee zu der Gedenkstätte ist einfach ein Produkt der überfälligen Zeit, würde ich sage. Geehrt wurden die unbesungenen Helden ja schon ab Ende der 50er Jahre und zwar durch die große Berliner Ehrungsaktion 'Unbesungene Helden', da sind zwischen 1958 und 1966 über 700 Berliner und Berlinerinnen geehrt worden. Trotzdem war es immer etwas so, dass die Menschen wie so ein abgespaltenes Etwas wahrgenommen wurden. Sie waren nicht integriert in die Gesellschaft. Das hat natürlich mit der Nachkriegsgeschichte zu tun.

Man hat geehrt, auf Initiative verschiedener Leute, nämlich der Überlebenden. Die Überlebenden wollten ihren Rettern Dankbarkeit zeigen und erweisen und sie haben gesagt, die und die und die Leute haben uns beim Überleben geholfen. Und wir möchten, dass sie geehrt werden. Das heißt, sie wurden geehrt, aber sie wurden nur halb wahrgenommen, weil es für die Mehrheitsgesellschaft ganz schwierig war, die Menschen zu akzeptieren, die in der Nazi-Zeit etwas getan haben, die also etwas anderes als sie selbst getan haben, nämlich mitzumachen. Und das war schwierig.

Jetzt ist so viel Zeit darüber vergangen, jetzt gibt es eine neue Generation, neue Generationen muss man eigentlich auch schon sagen, die damit nicht mehr belastet sind, die nicht mit ihrer eigenen Geschichte aus der NS-Zeit zu kämpfen haben, sozusagen. Und jetzt hat man den freien Blick auf das Thema, jetzt weiß man, da hat es wirklich mutige Leute gegeben und denen möchte man ein Denkmal setzen. In Form einer Gedenkstätte."

In der Gedenkstätte "Stille Helden" sollen alle geehrt werden, die verfolgten Juden halfen. Gleichzeitig muss dort die Geschichte dieses Ehrens, die vor allem eine Geschichte des Übersehens und Verleugnens ist, zur Sprache kommen.

Schieb: "Die Aktion 'Unbesungene Helden' war nur auf Berliner beschränkt, die in West-Berlin wohnten. Die Ostberliner kamen überhaupt nicht vor. Und in der DDR, bzw. Ost-Berlin wurde das Thema so gut wie überhaupt nicht wahrgenommen. Die Juden, die zurückgekehrt sind in die DDR, hatten ein völlig anderes Verhältnis zu ihrem Staat. Und der Staat zu ihnen. Weil die linke Ideologie, oder sagen wir mal die SED-Ideologie ja vorsah, dass sich Religionen nivellieren. Also Religion spielte überhaupt keine Rolle. Das heißt die Juden, die auch im DDR-Staat eine Rolle gespielt haben, auch oppositionell tätig waren, da gab es eine große Bandbreite, haben sich nie als Juden verstanden. Das gehörte zu ihrer Identität, und erst in den 80er Jahren, kurz vor der Wende, kam auch in der DDR es langsam, ganz langsam dazu, es doch anders zu sehen. Und da haben wir also als Eckpunkt den 9. November 1988, wo das Zentrum Judaicum von Honecker mitgegründet worden ist."

Inge Deutschkron überschrieb ein Kapitel ihres Erinnerungsbandes: "Menschliches - Allzumenschliches." Denn die Helfer waren keineswegs alle Engel.

"Natürlich waren es keine Engel, es waren doch Menschen. Und die hatten ihr eigenes Leben und ihre eigenen Hoffnungen und so. Und zwei Juden, also zwei Jüdinnen zu verstecken, war ja nicht eine Kleinigkeit. Zum Beispiel eben wieder Dr. Ostrowski dachte natürlich auch an seine Zukunft. Er war eben politisch immerhin einer der Führenden hier in Berlin und hoffte natürlich am Ende dieses Nazi-Regimes und des Krieges wieder irgendwie eine Rolle zu spielen, ja, vielleicht sogar eine größere Rolle als vorher. Und dann, ich meine so ganz jung war er nicht, die Zeit lief ihm sozusagen weg. Und er hatte plötzlich Angst, dass irgendwie etwas geschehen könnte durch uns. Und kam dann an und sagte, hört mal, nicht wahr, also wenn hier irgendetwas geschieht, dann kann ich mir das nicht ändern, ich müsste Euch opfern, denn ich habe noch eine wichtige Funktion. Ich sage sehr ehrlich, ich war außer mir."

Schieb: "Den Helfern drohte vielfältige Ahndung ihrer Taten sozusagen. Die Helfer haben immer gedacht, sie würden mit der Todesstrafe bestraft werden, wenn sie auffliegen. Die Todesstrafe hat es in der NS-Zeit gegeben, aber der Straftatbestand 'Judenhilfe' ist nie in das Reichsgesetzbuch aufgenommen worden. Das heißt, hat man Helfer gefunden oder verhaftet, hat man sie verhört und man hat versucht, alle möglichen anderen Delikte zu finden, um sie zu bestrafen. Dann waren sie aber auch schon im Bereich der Justiz. Und im Bereich der Justiz haben wir es dann mit Urkundenfälschung, mit Verstößen gegen die Kriegswirtschaftsverordnung, also diese ganzen Lebensmittelsgeschichten beruhen auf dieser Kriegswirtschaftsverordnung, und all diesen Delikten, Fluchthilfe in die Schweiz zum Beispiel wurde dann mit der Urkundenfälschung oder Zersetzung der Wehrkraft begründet, und dann konnte man einen Prozess führen und die Leute bestrafen. Die meisten landeten aber wirklich im Konzentrationslager. Und im Konzentrationslager konnte es auch passieren, dass man das nicht überlebte. Wir haben etliche Helfer, die den Todesmarsch nicht überlebt haben, die in Bergen-Belsen zu Kriegsende zugrunde gegangen sind. Das konnte durchaus das Ergebnis des Helfens sein, nämlich dass man es selbst nicht überlebte."

Inge Deutschkron: "Wenn sie diese Leute geehrt hätten, schon zu Anfang, hätten sie zugegeben, dass was Schreckliches passiert ist und das wollte man doch nicht. Ich habe in Bonn gearbeitet, als Journalistin, nach dem Krieg. Ende der 50er Jahre habe ich angefangen. Man hat doch versucht, diese Vergangenheit zu vergessen und zu übertünchen und zu verdrängen. Was meinen Sie, was ich für schreckliche Sachen habe erleben müssen. Wenn man zu mir gesagt hat, ach, vergessen Sie doch! Vergeben Sie doch! Oder: Ist doch alles nicht geschehen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was ich da erlebt habe, und ich habe schreckliche Tage und Nächte gehabt. Denn ich wusste eigentlich nicht, was sollst Du eigentlich hier.

Wir sind hingekommen und zwar Ende 1988 das erste Mal, weil das Grips Theater, das ja doch ein Theaterstück aus meinem Leben gemacht hat, eben sehen wollte, wo ich überall gewesen bin. Und es war unbeschreiblich, die ganze Atmosphäre da, und ich sagte immer, der hat dort gesessen, der hat dort gesessen, es war entsetzlich. Ich sage immer sehr ehrlich, ich habe mich am Abend furchtbar besoffen, um damit fertig zu werden. Dann kamen ja die Bilder, die wird man ja nicht los. Es gibt ja Leute, die behaupten, man müsste das loswerden, aber das ist nicht so, vor allem, wenn man so jung war wie ich. Auf jeden Fall, das war schrecklich schwer."

Bis kurz vor dem Ende der DDR gab es Schwierigkeiten bei dem Versuch, öffentlich der "Stillen Helfer" zu gedenken, doch die Wende räumte partout nicht alle Schwierigkeiten beiseite, im Gegenteil, nun tauchten neue Probleme auf.
Inge Deutschkron: "Dann kamen die Barrieren des Westens, nicht. Wie zum Beispiel, da müssen die Erben des Hauses zustimmen, nicht wahr, wenn man eine Tafel anbringt. Und diese Erben waren über 30 an der Zahl und waren über die ganze Welt verstreut. Also das war schrecklich. Und ich habe versucht, mit dem Rechtsanwalt, der sie vertrat, zu sprechen, der war gar nicht bereit, sich darum zu kümmern, also ich kann Ihnen gar nicht sagen, es war ein jahrelanger Kampf. Geholfen hat mir Johannes Rau, unser ehemaliger Bundespräsident, und natürlich Dr. Michael Naumann, der damals Staatsminister war. Der ist ja derjenige gewesen, der dafür gesorgt hat, dass diese kleine Museum ein Museum wird und dann auch richtig funktionieren konnte. Das ist also, wie ich immer sage, unsere Hebamme gewesen."

Das Gedenken wird in Zukunft immer schwieriger werden, nur noch wenige Überlebende, Helfer oder "Untergetauchte", sind am Leben, der Zeitpunkt ist abzusehen, wann man sich nicht mehr auf lebende Zeitzeugen berufen kann. Dann werden die gesammelten Geschichten der Gedenkstätte und des Museums immer wertvoller, spätestens dann wird man erkennen, dass das Auffinden der Blindenwerkstatt ein Glücksfall war.

Kwasigroch: "Ich glaube, dass die authentischen Orte doch ein sehr wichtiger Punkt sind. Und es ist auch für deutsche Besucher immer, gerade auch für Jugendliche, gut zu sehen, dass es auch andere Deutsche gab, die geholfen haben. Und dass man als Deutscher nicht immer nur gebrandmarkt wird als böser Nazi."

Aus ganz unterschiedlichen Motiven heraus haben die Helfer gehandelt. Aus christlichem Glauben, aus Nächstenliebe, aus sozialdemokratischer und kommunistischer Überzeugung heraus, manche wollten die Freunde nicht im Stich lassen, andere sind durch Zufall in diese Situation gekommen. Für diejenigen, die während der Nazi-Herrschaft nur zugeschaut haben, muss das Handeln der Helfer noch lange Zeit nach 1945 ein Dorn im Auge gewesen sein, denn hier wurde ja gezeigt: Widerstand war möglich, man konnte anders als die Mehrheitsgesellschaft handeln, man musste nicht mitlaufen.

Und auch wenn es unbegreiflich scheinen will, dass man erst jetzt öffentlich die Helfer ehrt, bleibt die bemerkenswerte Tatsache, wie groß die Zahl jener Menschen war, die während der Nazi-Zeit ihre humane Orientierung nicht verloren haben. Viele Helfer waren parteilos, ohne eine politische Bindung, ohne religiöse Bindung, es waren Menschen, die einfach aus Humanität geholfen haben.