Stewart O’Nan: Abschied von Chautauqua

Von Joachim Scholl · 16.03.2005
Jeden Sommer verreist die wohlhabende Menschheit, und auf Millionen von amerikanischen Urlaubspostkarten steht vermutlich, halb im Ernst, halb als Floskel, dieser Satz: "Wish you were here". So hat Stewart O’Nan seinen Roman im Original getauft. Denn wir fahren mit ihm in die Ferien, für eine Woche an den Lake Chautauqua im Bundesstaat Pennsylvania, wo die Familie Maxwell aus Pittsburgh ein Sommerhaus besitzt.
Es ist allerdings ein Abschiedsbesuch. Nach dem Tod des Vaters Henry hat die siebzigjährige Mutter Emily das Anwesen verkauft. Ein letztes Mal trifft sich dort die Familie: Neben Emily kommen die Schwägerin Arlene, der Sohn Kenneth mit seiner Frau Lise und den Kindern Sam und Ella, die Tochter Margaret reist samt ihren Sprösslinge Justin und Sarah an. Und alle bringen sie Probleme mit.
Emily und Arlene haben Henrys Tod längst nicht verkraftet, Kenneth sieht sich in seinem Beruf als Fotograf gescheitert und entgleitet seiner Ehefrau, Margaret kommt frisch aus der Reha wegen Alkoholproblemen, gerade hat ihr Mann Jeff sie wegen einer jungen Blondine verlassen. Darunter leiden auch der zehnjährige Justin und seine Schwester Sarah, die mit ihren 13 Jahren der Mutter nichts mehr verzeiht.

Die gleichaltrige Cousine Ella muss eine demütigende Zahnspange tragen, Bruder Sam ist ein kleiner Kleptomane, und dem alte Familien-Hund Rufus geht’s auch nicht mehr gut, er muss sich immer übergeben. Im Grunde fürchten sich alle vor diesem Urlaub, vor den Spannungen auf engstem Raum, in einem Haus voller Erinnerungen.

Sieben Tage verbringen die Maxwells in Chautauqua, in sieben Kapiteln erzählt Stewart O’Nan ihre Geschichte. Neun Personen plus Hund ergeben immer wieder neue Konstellationen, beim Baden und Boot fahren, auf der Fahrt zum Video-Shop oder Supermarkt, beim Kartenspielen während eines Regentags und abendlichen Grillen, oder nachts, wenn die Kinder schlafen, und Kenneth und Margaret in der Garage zusammen einen Joint rauchen. Nichts Spektakuläres passiert also, und dennoch erzeugt die Erzählung einen so starken erzählerischen Sog, dass man das Buch kaum aus der Hand legen mag.

Mit meisterlich ruhiger Hand entwirft Stewart O’Nan ein Epos vom Lebensgang einer gewöhnlichen amerikanischen Familie. Wer den Autor kennt, traut diesem Frieden anfangs nicht so recht. Stewart O’Nan ist bekannt für seine kriminelle Energie, den Spaß an filmhaften "Action"-Sequenzen und das Talent, aus einer biederen, bürgerlichen Normalität urplötzlich Gewalt und Verbrechen emporschießen zu lassen.

In seinem Buch "Speed Queen" (dt.1998), das ihn international bekannt machte, lässt er eine Serienmörderin erzählen; in "Das Glück der anderen" (2002) rottet er ein ganzes Dorf durch eine Seuche aus; "Halloween" (2004) erinnert nicht zufällig an den bekannten Horrorfilm.

In "Abschied von Chautauqua" verbietet sich Stewart O’Nan jeden Exzess. Zwar verschwindet die Kassiererin einer Tankstelle spurlos, was große Erregung im Ort auslöst, man vermutet Entführung und Mord, aber dieses Vorkommnis bleibt dann doch eine Nachricht aus dem Radio wie so viele. Und wenn die erblühende Schönheit Sarah, die alle Blicke auf sich zieht, einmal mit Hund Rufus ausbüchst, um ihren aktuellen Liebeskummer zu bekämpfen, und alle sie suchen gehen, sitzt sie einfach am See.

Dann ist schon Samstag, die Ferienwoche vorbei, und die Trauer über den unwiderruflichen letzten Aufenthalt geht unter in der allgemeinen Abreise-Hektik - "Wo ist mein Gameboy?" – und der Sorge, dass Rufus wieder ins Auto kotzt. Alles geht eben nun mal vorbei, der Urlaub und die Zeit, in der man jahrzehntelang jeden Sommer nach Chautauqua fuhr.

Während eines Ausflugs denkt Emily einmal: "Ihr Leben war nicht tragischer verlaufen als das anderer Leute. All diese Menschen in ihren warmen Autos würden letztlich ihre Angehörigen verlieren oder selbst sterben und ihre Familie zurücklassen. Städte würden sich füllen und leeren, Gebäude unter der Abrissbirne zusammenstürzen. Das verstand sich von selbst, und nur ein Idiot oder ein verträumter Teenager würde es als schrecklich empfinden..."

Stewart O’Nan weiß, dass wir alle solche Idioten oder Teenager sind. Vielleicht hat er deshalb diesen rührenden und doch so unsentimentalen großen Roman geschrieben. Der Autor selbst stammt auch aus Pittsburgh und hat zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Bestimmt lieben sie sehr die Widmung, die Papa O’Nan seinem Buch gab: "Für Dewey, unseren Rufus."

Stewart O’Nan: Abschied von Chautauqua.
Roman. Aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel.
Rowohlt Verlag 2005. 752 Seiten. € 24,90.