Steven Pinker über Fortschritt

"Man muss hinter die Schlagzeilen schauen"

Steven Pinker im Anzug mit bunter Krawatte bei einer Rede in Mexiko, Puebla, beim City of Ideas Festival.
Der Psychologe und Harvard-Professor Steven Pinker © imago / Agencia EFE
Steven Pinker im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 26.09.2018
Klimawandel, Migrationsprobleme, wachsende Ungleichheit: Die Welt, scheint es, entwickelt sich nicht zum Guten. Dem widerspricht der Bestsellerautor und Harvard-Professor Steven Pinker, dessen neues Buch "Aufklärung jetzt" nun auf Deutsch erscheint.
Es gebe viele positive Trends, meint der Psychologe und Bestseller-Autor Steven Pinker: Die Menschen lebten viel länger als noch vor einigen Jahren, gewisse Krankheiten seien besiegt, die Armut habe sich weltweit stark verringert: "Diesen Fortschritt kann man nur erkennen, wenn man hinter die Schlagzeilen schaut."

Mitschuld der Medien

Zwar leugnet Pinker nicht, dass es auch Besorgnis erregende Entwicklungen gebe. So seien Rechtspopulisten eine große Gefahr, dass der Fortschritt wieder zurückgedrängt werde. Doch es gehe darum, "eine gewisse Exaktheit" wiederzuerlangen. Es herrsche eine Kluft zwischen dem, wie es den Menschen individuell gehe und dem, wie sie die Gesellschaft sehen. Das erkläre sich teilweise durch die Medien, denn sie würden auf eine "negative Berichterstattung fokussieren":
"Sie konzentrieren sich auf Events statt auf Trends. Trends sind eine Entwicklung, die sehr langsam vonstatten geht. Ein Event passiert sofort – und da spielen Katastrophen eine Rolle, Mord und Totschlag, eben das, was die Schlagzeilen der normalen Medien ausmacht."
(bth)

Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Heute erscheint ein Buch auf Deutsch, das schon in den Vereinigten Staaten für viele Diskussionen gesorgt hat, das Buch des Harvard-Psychologen und Bestseller-Autors Steven Pinker: "Aufklärung jetzt" heißt das, "Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt – Eine Verteidigung".
Sie kennen Steven Pinker vielleicht von seinem vorigen, auch auf Deutsch erschienen Buch "Gewalt: Eine kurze Geschichte der Menschheit". Er beschäftigt sich ja mit Sprache und Denken, schreibt regelmäßig für die "New York Times" und den "Guardian", und das "Time Magazine" zählt ihn zu den 100 einflussreichsten Menschen der heutigen Welt. Soweit die Vorschusslorbeeren. Bei uns hören Sie ihn jetzt, um über sein Thema "Aufklärung jetzt" und sein Buch zu reden, das vor Fortschrittsoptimismus nur so strotzt. Steven Pinker, good morning!
Steven Pinker: Hello!
Billerbeck: In den USA ist ein Populist an der Macht, Flucht und Migration nehmen weltweit zu, der Klimawandel schreitet voran, und jetzt sagen Sie, es wird nicht alles schlechter, sondern alles besser. Wie das?
Pinker: Also einige Dinge sind in der Tat schlechter geworden, aber es gibt sehr viele positive Trends, die man jedoch verpasst, wenn man immer nur den Schlagzeilen glaubt. So leben wir heutzutage weltweit etwa 30 Jahre länger als noch vor einigen Jahren, man wird nicht mehr nur 30 Jahre alt im Durchschnitt, sondern 70 Jahre. Die Armut hat sich ganz stark verringert. Wir reden nicht mehr davon, wie noch vor einigen Zeiten, dass 90 Prozent der Weltbevölkerung in Armut lebt, sondern es sind nur noch 10 Prozent. Es gibt also sehr viele positive Aspekte auch, gewisse Krankheiten sind ausgemerzt, und das kann man aber nur dann, diesen Fortschritt, erkennen, wenn man eben hinter die Schlagzeilen schaut.

"Lebensstandard der Ärmsten hat sich erhöht"

Billerbeck: Sie haben es eben ja schon auch gemacht, Sie bringen in Ihrem Buch viele Statistiken, um das zu belegen. Aber was ist das beispielsweise wert, wenn die Welt heute hundertmal so reich ist wie noch vor zwei Jahrhunderten, wie Sie schreiben, und zugleich aber die ökonomische Ungleichheit in den Vereinigten Staaten, in Deutschland und anderswo stetig zunimmt?
Pinker: Ja, und trotzdem ist es so, dass weil die ärmeren Länder sich sozusagen etwas besser entwickelt haben als die reichen Länder, also die Ungleichheit in den ärmsten Ländern abgenommen hat, dass man global schon davon reden kann, dass diese Ungleichheit eigentlich gefallen ist. Natürlich, wenn wir uns jetzt reiche Länder anschauen wie Deutschland oder Amerika, dann stimmt es, was Sie sagen, aber da darf man auch nicht vergessen, dass selbst die ärmsten Bevölkerungsschichten in den reichen Ländern, dass es denen wesentlich besser geht als noch vor einigen Jahrhunderten, also dass auch ihr Lebensstandard sich wesentlich erhöht hat, auch wenn natürlich diese soziale Schere immer weiter auseinanderklafft.
Billerbeck: Da muss ich jetzt einen Tropfen Wasser in den Wein des Optimismus fallen lassen. Wenn wir uns die Lage heute ansehen, dann haben wir Donald Trump in den USA, wir haben erstarkenden Rechtspopulismus in diversen europäischen Ländern, auch hier bei uns. Ist das nicht politisch eher ein Rückschritt?
Pinker: Das ist in der Tat ein Schritt zurück, aber die Message von meinem Buch heißt ja nicht Optimismus über alles, sondern es geht einfach darum, eine gewisse Exaktheit wieder zu erlangen und sich die Dinge ganz genau anzuschauen, und es ist schon so, dass es in vielerlei Hinsicht doch einen Fortschritt gegeben hat auf der Welt. Das heißt aber nicht, dass dadurch überall alles besser geworden ist. Also ich behaupte ja nicht, es hat nur Fortschritt gegeben, das wäre ja ein Wunder. In der Tat ist es so, dass diese Populisten, die Sie erwähnt haben, diese Rechtspopulisten, dass eine große Gefahr besteht, dass dieser Fortschritt, von dem ich spreche, wieder zurückgedrängt wird.

Vernunft, Wissenschaft, Humanismus

Billerbeck: Nun fordern Sie in Ihrem Buch "Aufklärung jetzt". Was verstehen Sie genau darunter?
Pinker: Nun, der Untertitel meines Buches erklärt ja auch ein bisschen, was ich unter Aufklärung verstehe, nämlich Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Vernunft ist ganz klar: die Logik, das ist die Welt der Beweise, die steht im Gegensatz zur Welt des Glaubens, des Mystizismus oder zu Autoritätsglauben. Wissenschaft ist natürlich die Welt, die wir verstehen sollen anhand der Vernunft. Der Humanismus, da geht es natürlich darum, dass man immer das Wohl des Menschen im Auge hat und dass man nicht auf veraltete Rassenideologien oder Stammes-, Blut- und Ehre-Ideen zurückgreift. Der Fortschritt ist natürlich, wenn es uns gelingt, die Vernunft und die Wissenschaft so einzusetzen, dass sie zum Wohle der Menschheit dient, dann haben wir Fortschritt.
Billerbeck: Trotzdem erleben wir ja jetzt, dass viele Menschen sehr negativ auf die gesellschaftliche Entwicklung blicken. Wo sehen Sie die Gründe dafür?
Pinker: Nun, da herrscht sozusagen eine Kluft zwischen dem, wie es den Menschen individuell geht und dem, wie sie die Gesellschaft sehen. Fragt man die Leute: Geht es Ihnen gut, sagen die meisten Leute, ja, es geht mir gut. Fragt man sie danach, und wie geht es Ihrem Land oder wie geht es der Gesellschaft? Dann kommt meistens die Antwort, ach, der geht es eigentlich nicht besonders gut. Fragt man die Leute, sind sie zufrieden mit der Schulbildung ihres Kindes, sagen die meisten, ja, ich bin zufrieden mit der Schule meines Kindes. Fragt man sie, wie sieht die Schulsituation in Ihrem Land aus, hört man oft die Antwort, ja, die ist eigentlich miserabel. Also was ich damit meine ist, man hat eine ganz andere Sicht auf die Gesellschaft, und das erklärt sich teilweise durch die Medien, weil die Medien doch fokussieren auf eine negative Berichterstattung. Sie konzentrieren sich auf Events anstatt auf Trends, und Trends sind ja eine Entwicklung, die sehr langsam vonstattengeht, und ein Event, das ist etwas, was sofort passiert, und da spielen Katastrophen eine Rolle, da spielt Mord und Totschlag eine Rolle, eben das, was die Schlagzeilen der normalen Medien hauptsächlich ausmacht.
Billerbeck: Nun haben Sie sich ja schon ein bisschen verwahrt gegen das Wort Optimismus, aber bleiben wir beim Realismus vielleicht: Fürchten Sie nicht, dass Leserinnen und Leser verführt werden könnten, die Hände in den Schoß zu legen, nach dem Motto: Das wird alles schon, das wird mit der Aufklärung schon klappen?
Pinker: Nein, das ist ein Fehler, den traue ich meinen Lesern jetzt ehrlich gesagt nicht zu, dass sie alles sozusagen für gottgegeben hinnehmen. Ich bin ja auch sehr skeptisch, dass die sogenannten Gesetze der Welt in sich positiv sind. Ganz im Gegenteil, sie verbessern nicht unbedingt unsere Bedingungen, und Evolution macht es oft auch nicht besser, sondern schlechter. Mein Punkt in meinem Buch ist, dass wir mit dem Fortschritt, den wir uns durch die Aufklärung erworben haben, dass wir an diesem Fortschritt und an dieser Aufklärung, dass wir das nicht infrage stellen, dass wir darum kämpfen, dass es so bleibt, dass das Ideale sind, die wir weiter verfolgen, weil wenn dem nicht so ist, dann ist unser Fortschritt in der Tat bedroht.

"Negativer Alltagsjournalismus"

Billerbeck: Vielleicht ist es ja die berühmte German Angst, aber mal ehrlich: Glauben Sie, dass es auch in Zukunft weiter aufwärts gehen wird, oder ist da ein bisschen Zweckoptimismus dabei, um den vielen Untergangspropheten, die wir ja alle sehen, etwas entgegenzusetzen?
Pinker: Nein, ganz im Gegenteil. Ich bin ja dafür, dass man sich einfach Daten, Statistiken anschaut, dass man realistisch bleibt und die Trends erkennt, die es gibt, und solche Trends lassen sich anhand von Daten und Statistiken doch sehr gut beweisen, und das ist etwas, da kann man einfach nur einen positiven Trend ablesen, der ganz im Gegensatz zu dem negativen Alltagsjournalismus steht, der sich auf Schlagzeilen und auf das Propagieren von schlechten Nachrichten meistens konzentriert.
Billerbeck: Der Psychologe und Harvard-Professor Steven Pinker. Ich danke Ihnen für das Gespräch, das Jörg Taszman übersetzt hat.
Pinker: My pleasure, thank you very much.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Buchhinweis:
Steven Pinker: "Aufklärung jetzt. Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung"
Übersetzung: Martina Wiese
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018
736 Seiten, 26 Euro

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