Sterzing kritisiert "Strangulierungsstrategie"

Moderation: Jörg Degenhardt · 05.03.2008
Nach der jüngsten Eskalation im Gaza-Streifen hat der Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah, Christian Sterzing, Verhandlungen mit der radikalislamischen Hamas angemahnt. Die westliche und israelische "Isolierungs- und Strangulierungsstrategie" habe zu nichts geführt, sagte der ehemalige Bundestagsabgeordnete der Grünen. Sie habe nur dazu geführt, die radikalen Kräfte innerhalb der Hamas zu stärken.
Jörg Degenhardt: Sind sie noch zu retten, die abgebrochenen Friedensverhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern? Wieder einmal ist im Nahen Osten ein Tiefpunkt der Entwicklung erreicht. Und auch der amerikanischen Außenministerin, Frau Rice, dürfte es bei ihrem gegenwärtigen Besuch in der Region schwer fallen, beide Seiten wieder an einen Tisch zu kriegen nach der israelischen Offensive im Gazastreifen. Während des fünftägigen Militäreinsatzes kamen mehr als 100 Palästinenser ums Leben, darunter viele Zivilisten, auf israelischer Seite wurden zwei Soldaten getötet. Es war die schwerste Militäraktion seit dem Jahr 2000. Zum Interview hier im Programm begrüße ich Christian Sterzing, den Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah. Guten Morgen, Herr Sterzing!

Christian Sterzing: Schönen guten Morgen, Herr Degenhardt!

Degenhardt: Palästinenserpräsident Abbas hat gestern zu einem Waffenstillstand zwischen Israel und den Palästinensern im Gazastreifen und im Westjordanland aufgerufen. Aus Israel gibt es dagegen Anzeichen, dass man notfalls wieder den Gazastreifen besetzt. Was würde das in der ohnehin schon festgefahrenen Situation bedeuten?

Sterzing: Ja, wir beobachten ja schon seit einigen Monaten, dass es von palästinensischer Seite immer wieder Angebote für einen Waffenstillstand gibt, auch von Hamas-Seite wurde dies angeboten. Aber Israel erklärt sich dazu nicht bereit. Das sind im Wesentlichen zwei Gründe: Zum einen will man mit Hamas nicht verhandeln, das ist aus israelischer Sicht eine terroristische Organisation, mit der man nicht verhandelt. Und zum anderen will man sich eben die Handlungsspielräume offen halten, eben jederzeit in den Gazastreifen einmarschieren zu können oder dort Bombardierungen vorzunehmen oder militärische Aktionen durchzuführen.

Degenhardt: Aber wäre eine Besetzung, und das war meine Frage, des Gazastreifens, würde das nicht eine weitere Eskalation der Lage nach sich ziehen?

Sterzing: Sicherlich. Die Lage ist ungeheuerlich dramatisch für die Bevölkerung im Gazastreifen. Wir haben in den letzten Monaten ja immer noch ein wenig Hoffnungen gesetzt auf den parallel laufenden, sogenannten Friedensprozess, von dem aber wir wissen, dass dort substanziell eigentlich nichts passiert ist. Und insofern würde eine erneute Besetzung, die in Israel ja insofern heftig diskutiert wird, alldieweil man hofft, eben durch einen Einmarsch, wenn auch nicht durch eine Besetzung, durch einen länger andauernden Einmarsch dort den Kassambeschuss beenden zu können, dass eine solche Situation uns wieder um Jahre zurückwerfen würde.

Degenhardt: Die entscheidende Frage scheint auch zu sein, und offensichtlich ist sie auch nicht berücksichtigt worden bei der Zwei-Staaten-Lösung, die der amerikanische Präsident vorgeschlagen hat: Wie umgehen mit der Hamas? Was empfehlen Sie?

Sterzing: Ja, das ist die zentrale Frage, die uns seit zwei, drei Jahren im Nahen Osten beschäftigt. Die westliche, die israelische Strategie ist eben eine Isolierungs- und Strangulierungsstrategie. Sie hat meines Erachtens zu nichts geführt. Wir haben in den letzten Monaten, anderthalb Jahren eine erhebliche, dramatische Zuspitzung der Situation erlebt. Wir sind auf dem Weg zu irgendeiner friedlichen Regelung keinen Schritt weitergekommen.

Und insofern glaube ich, dass es an der Zeit ist zu überlegen, inwieweit man nicht durch eine neue Strategie, und das heißt eben, auch Gespräche mit Hamas, mit bestimmten Kräften in Hamas, wieder neue Impulse zu setzen. Denn wir haben uns mit dieser Isolierungsstrategie eigentlich politisch auch weitgehend handlungsunfähig gemacht. Wir haben keinen Einfluss mehr auf die moderaten, gemäßigten Kräfte innerhalb von Hamas, die bereit wären zu Gesprächen. Dort sind ja die Militanten zurzeit diejenigen, die sagen, wo es lang geht.

Degenhardt: Kann man sagen, dass die Hamas im Prinzip von der Entwicklung der letzten Jahre profitiert hat, weil diese Konfrontationsstrategie, von der Sie ja auch mit anderen Worten gesprochen haben, des Westens, weil die nicht gefruchtet hat?

Sterzing: Ja, ich glaube, man soll sich da wirklich keine Illusionen machen. Die westliche Strategie hat zum einen erheblich dazu beigetragen, um Palästina in einen Bürgerkrieg hineinzuführen. Und sie hat erheblich dazu beigetragen, Hamas oder gerade eben auch die radikalen Kräfte innerhalb von Hamas zu stärken. Insofern hat uns diese Strategie weiter weg von einer friedlichen Lösung geführt und nicht mehr Schritte und neue Perspektiven dahin eröffnet.

Degenhardt: Wie groß ist eigentlich die Gefahr, dass auch im Westjordanland die Dinge außer Kontrolle geraten, dass da möglicherweise eine weitere Intifada droht?

Sterzing: Die Situation in der Westbank ist völlig anders als im Gazastreifen, weil ja dort praktisch eine israelische Besatzung besteht. Es wird seit Monaten davon geredet, oder man muss wohl sagen, eher spekuliert, ob wieder eine neue Intifada starten wird. Ich glaube da nicht da dran. Aber es ist wie gesagt ein Glauben, ein Eindruck, eine Spekulation. Die Bevölkerung auch im Westjordanland ist verzweifelt, hat keine politische Perspektive. Und ich glaube, dass der Griff der israelischen Besatzungsmacht auf die Bevölkerung im Westjordanland doch so fest ist, dass es kaum möglich sein wird, hier, selbst wenn es dazu Pläne gebe, eine Intifada im Sinne eines Volksaufstandes zu starten. Was bestenfalls im Sinne der radikalen Palästinenser im Gespräch sein könnte, ist eine verstärkte Aufnahme wieder militärischer Aktionen und Attentate, aber ich hoffe sehr, dass es dazu nicht kommt.