Stern statt Kreuz

Von Ita Niehaus · 31.10.2009
Während christliche Kirchen Gotteshäuser aufgeben müssen, werden jüdische Gemeinden in Deutschland immer größer. Da kann es vorkommen, dass ehemals christlich geweihte Kirchen zu Synagogen umfunktioniert werden. Ein Beispiel aus Hannover.
Sonntagnachmittag im Zentrum der "Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover". Die Mitglieder der "Etz Chaim Synagoge" und ihre Gäste feiern den 100. Gründungstag von Tel Aviv.

Jahrelang hatte die schnell wachsende "Liberale jüdische Gemeinde Hannover" nach geeigneten Räumlichkeiten gesucht. Seit gut einem halben Jahr haben die rund 630 Mitglieder aus 15 Nationen nicht nur eine neue Synagoge, sondern auch ein Zentrum für jüdische Studien, Kultur und gesellschaftlichen Dialog. Das Besondere: Synagoge und Gemeindezentrum sind in einer entwidmeten Kirche aus den 70er-Jahren: in der ehemaligen evangelisch-lutherischen Gustav-Adolf-Kirche .

"Als ich das erste Mal dieses Gebäude besichtigt habe, da habe ich gedacht, hier fühle ich mich wohl. Und genauso ist es geblieben."

Sagt Ingrid Wettberg, die Vorsitzende der "Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover".

"Es ist umgebaut worden, aber der Grundriss ist geblieben mit diesem sehr schönen Innenhof hier. Und unsere Synagoge ist im ersten Obergeschoss, wo auch damals der Sakralraum war der Kirche. Wir haben uns sofort zuhause gefühlt hier."

Eine Synagoge in einer ehemaligen christlichen Kirche – auch für die 28 Jahre alte Rebecca Seidler und ihren Mann Konstantin Hönsch kein Problem.

"Aus dem Grund nicht, da es ja auch ein Haus war, in dem Religion praktiziert worden ist. Das ist ja ein schöner Übergang. Es wäre ja was Anderes, wenn das hier ein Autohaus geworden wäre. Ich denke, dass wäre schwerer zu vermitteln. Aber so können ja alle damit leben, weil wir ja letztlich auch den einen Gott haben."

"Ich bin jetzt hier schon voll angekommen, und wir haben ganz viele Ideen, was man hier machen kann, die Jugendarbeit ist ein ganz großes Thema, die Kita wird erweitert – man merkt jetzt richtig die Energien, die frei werden durch diese neuen Räume."

Die jüdische Kindertagesstätte wird bald eine zweite Gruppe haben – die Nachfrage ist groß. Fast alle Gemeindemitglieder engagieren sich sehr – im Frauentreff, in Musik- und Tanzgruppen, in der Barmitzwa Gruppe oder in Sprachkursen. Die große Mehrheit kommt aus der ehemaligen Sowjetunion.

"Man hat ja nie gedacht, dass in Deutschland noch mal jüdisches Leben, besonders liberales, jüdisches Leben entstehen würde nach der Shoah. Aber es ist, Gott sei Dank, anders gekommen. Und durch die Zuwanderer ist es wieder möglich, Judentum wieder pluralistischer zu leben, verschiedene Facetten zu leben wie es in den USA gang und gäbe ist, eigentlich auf der ganzen Welt."

Die Integration der russisch-sprachigen Juden ist eine Bereicherung, aber auch eine große Herausforderung. Eine Sozial- und Migrationsberatungsstelle ist ein Schwerpunkt der Gemeindearbeit. Ingrid Wettberg sieht sich als Brückenbauerin. Besonders wichtig ist ihr die Jugendarbeit.

"Weil diese Menschen drei Generationen Judentum nicht leben konnten, nicht leben durften in der ehemaligen Sowjetunion, und somit müssen die Kinder und Jugendlichen durch uns das Judentum lernen, die Feste beigebracht bekommen."

Alte und neue Gemeindemitglieder wachsen so zusammen – nach und nach. Diese Erfahrung hat auch die 22 Jahre alte Studentin der Medienwissenschaften, Marianna Volodarska, gemacht.

"Das ist für beide Seiten auch extrem bereichernd. Ich habe das schon als Jugendliche mitbekommen zum Beispiel durch Sonntagsunterricht, an dem Kinder teilgenommen haben aus Familien, die neu hinzugekommen sind, und wo zum Beispiel ich, die schon ein bisschen länger in Deutschland war, mit geholfen hab – auf der menschlichen Ebene hat es immer geklappt und das ist das Wichtigste. Und der Kirchenraum ist ja sehr stark verkleinert worden. Ja, wie wir das Gebäude ja so kennen. Ja, Fenster drin, ja."

Brigitte Mitdank und Christian Paul sind zu Gast auf der Feier zum 100. Geburtstag von Tel Aviv. Jahrelang haben sie hier, in der ehemaligen evangelisch-lutherischen Gustav-Adolf-Kirche, den Gottesdienst besucht.

"Früher war es für uns auch schön, aber jetzt sind wir überrascht, dass es wie neu wirkt. Herzklopfen..es trifft mich doch."

"Ich finde, es ist ein schönes Gefühl, zu sehen, dass das Leben hier in diesem Haus weitergeht und dass es ein religiöses Leben ist. Dass es durchaus ja auch ganz viele Gemeinsamkeiten mit dem christlichen und jüdischen Glauben gibt, das finde ich einfach schön."

Vor zwei Jahren wurden die Gustav-Adolf- und die Herrenhäuser Gemeinde zur neuen Gemeinde Herrenhausen-Leinhausen zusammengeschlossen. "Ihre" Kirche zu entwidmen und einer anderen religiösen Gemeinschaft zu überlassen, das war kein einfacher Schritt für die meisten Mitglieder der Gustav-Adolf-Gemeinde.

"Die Frau Wettberg hat viele Vorträge im Vorfeld vor dem Verkauf schon mit uns gehabt, auch in den Gemeinden. Und unsere Pastoren haben uns gut vorbereitet. Wir sind nicht einfach so da sitzen geblieben und nun macht das mal, sondern wir hatten viele Gespräche, viele Vorträge, das war sehr hilfreich."

Das Interesse an der "Etz Chaim Synagoge" ist groß. Beim Tag der offenen Tür vor kurzem kamen über 2000 Besucher. Viele von ihnen waren aus der neuen evanglisch-lutherischen Gemeinde Herrenhausen-Leinhausen.

"'Ne große Aufgeschlossenheit gegenüber der jüdischen Religion durch diesen Einzug der Gemeinde, wir informieren uns zum Beispiel gegenseitig über Veranstaltungen, laden uns gegenseitig ein, wenngleich jeder bei seiner Sache bleibt. Aber es ist eine innere Anteilnahme und die finde ich sehr gut."

Christian Sundermann, Superintendent im Evangelisch-lutherischen Stadtkirchenverband, wünscht sich, dass sich der Kontakt zur "Liberalen Jüdischen Gemeinde" weiter so positiv entwickelt.

"Ganz selbstverständliche Beziehungen, keine Berührungsängste, ein Miteinander und nicht ein Nebeneinander in diesem Stadtteil und darüber hinaus."

Ein liberales Judentum wieder aufzubauen, neue Gemeindemitglieder zu integrieren und, auf der anderen Seite, nach außen zu gehen, sich im interreligiösen Dialog zu engagieren – keine leichte Aufgabe. Ingrid Wettberg und die anderen Gemeindemitglieder haben sich viel vorgenommen für die Zukunft.

"Wir möchten raus aus der Rolle, die die Juden bisher spielten, nach dem Krieg bis vor zehn Jahren. Das war die Opferrolle, die Minderheitenrolle, die Nachkommen der Überlebenden und so weiter. Ich möchte gerne, dass wir wahrgenommen werden als Juden, die hier wieder leben in diesem Deutschland und hier als normale Menschen einen Beitrag leisten wollen für dieses Land, einen kulturellen Beitrag leisten wollen. Das ist meine Vision."