Stephan Lohse: "Ein fauler Gott"

Keinen Trost im Glauben

Spielplatz
Buchcover "Ein fauler Gott" und ein Spielplatz in der Bundesrepublik 1976. © Suhrkamp Verlag/imago/Werner Otto
Von Gerrit Bartels  · 07.06.2017
"Kackgott" denkt sich der 11-jährige Benjamin, als sein Bruder stirbt. "Ein fauler Gott" von Stephan Lohse spielt in den 70er-Jahren und erzählt, wie Benjamin und seine Mutter versuchen, den plötzlichen Tod von Jonas zu verarbeiten.
An so einer Frage kann ein Junge wirklich verzweifeln: "Warum stirbt jemand, obwohl niemand dafür gebetet hat, und warum lebt jemand, obwohl er es nicht mehr möchte." Überhaupt, dieser komische Gott, denkt sich der 11-jährige Benjamin Schrader in Stephan Lohses Roman "Ein fauler Gott", der ist vielleicht wirklich zu beschäftigt, bei den vielen Kirchen, die es auf der Welt gibt, den vielen Menschen, die auf ihn angewiesen sind. Und dann holt er sich auch noch einen Engel in Form seines kleinen Bruders Jonas zur Hilfe, wie es seine Mutter ihm bei der Beerdigung von Jonas zuflüstert, was Ben dann gar nicht mehr versteht: "Fauler Gott. Fauler Kackgott."
Die Religion, der Glaube an Gott – sie können wohl wirklich kein Trost sein, wenn ein geliebter Mensch, ein Kind gar, stirbt. Das also ist schnell geklärt in diesem Roman, und der gelernte Schauspieler Lohse erzählt dann in seinem Debütroman in stetig wechselnder Perspektiven, wie Benjamin und seine Mutter Ruth versuchen, den plötzlichen, fast unerklärlichen, möglicherweise durch eine Viruserkrankung verursachten Tod von Jonas zu verarbeiten und weiterzuleben. Die Mutter droht daran zu zerbrechen, sie ist suizidgefährdet, bis zum irgendwie recht offenen Schluss des Romans, "ihre Haut ist kalt, sie hängt vom Fleisch wie ein nutzloser Lumpen", sie lebt, aber ist innerlich krank, eigentlich gestorben.

Kummerloch im Bauch

Ben dagegen hat es einfacher, auch weil er jung ist. Er steht kurz vor der Pubertät und beginnt die Welt zu entdecken, die reale, die oft noch mit der von ihm fantasierten, leicht spinnerten Welt kollidiert, in die er sich gern zurückzieht. Außerdem findet er, anders als seine Mutter, deren Mann Hans sie und die beiden Kinder schon lange verlassen hat, andere Menschen, die ihn stützen: seinen Freund Christopher, genannt Chrisse, oder Herrn Gäbler, der ihm in einem Autowrack das Fahren beibringt, aber auch erklärt, was es mit dem immer wiederkehrenden Schmerz, mit dem Kummerloch im Bauch auf sich hat.
Lohse ist sehr nahe dran an seinen beiden Figuren, wozu nicht zuletzt das von ihm gewählte Erzählpräsens beiträgt, aber auch die manchmal quälend genauen, oft sachlichen Beschreibungen der Welt, in der Ben und seine Mutter leben. Es ist die Welt der frühen 70er-Jahre, eine Reihenhaussiedlung in einem Hamburger Stadtteil – und eine Zeit, in der es das Attentat auf das israelische Olympiateam gab, der Radikalenerlass für Diskussionen sorgte, die Kinder Ralf Grothmann, Beate Seibert, Oliver Erdmannsdorff oder eben Benjamin Schrader hießen, ihre Eltern ihnen zu Weihnachten und Geburtstagen "Was-ist-Was"-Bücher schenkten, damit sie was lernten, und die Kinder doch lieber Winnetou lasen, in den grünen Ausgaben des Bamberger Karl-May-Verlags.

Ein Roman voller Zeitkolorit

"Ein fauler Gott" ist voller Zeitkolorit, was manchmal etwas aufgesetzt wirkt, keine wirkliche Funktion erkennen lässt. Es erklärt zumindest manchmal aber auch die Hilflosigkeit und das Verzweifeltsein der Mutter, psychotherapeutische Begleitungen gibt es zu der Zeit noch nicht in dem Maß. Zumal Lohse ihre Herkunftsgeschichte miterzählt, da sie Ruth schon auf der Flucht vor den Russen und wegen des Krieges um Kindheit und Jugend betrogen fühlt.
Lohses Roman steckt voller Trauer und Verlust und ist eine mitunter anrührende, aber gänzlich kitschfreie Geschichte, die recht fidel im Subtext ein Adoleszenz- und Coming-of-Geschehen miterzählt. Wer hier wen mehr braucht, Ben seine Mutter oder doch vor allem sie ihn als entscheidende Stütze zum Weiterleben, ist oft uneindeutig. Klar jedoch zeigt sich, dass Gott nicht hilft, aber in der kleinbürgerlichen Welt der 70er-Jahre sehr präsent ist. "Hat er noch etwas gesagt", fragt die Mutter Ben am Ende, als beide über Bens letzten Besuch bei Jonas im Krankenhaus sprechen. "Ja, dass er vor Gott keine Angst hat."

Stephan Lohse: Ein fauler Gott
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017
330 Seiten, 22,00 Euro