Stein auf Stein

06.10.2010
Städte sind zu Stein geronnene Spiegel ihrer Zeit. Der italienische Architekturhistoriker Vittorio Magnago Lampugnani beleuchtet mit "Die Stadt im 20. Jahrhundert" die Schnittstellen zwischen Kunst, Architektur und Politik.
Der britische Schokoladenfabrikant Cadbury ließ Ende des 19. Jahrhunderts in Bournville unweit von Birmingham eine Arbeitermustersiedlung bauen: einfache Cottages mit beheizbaren Räumen, großen Fenstern, einer Schrankbadewanne und einem Garten für Gemüseanbau. Dahinter stand ein paternalistischer Impuls. Der Unternehmer wollte nicht nur dem Elend großstädtischer Behausungen Abhilfe schaffen und seiner Belegschaft ein menschenwürdiges Umfeld mit Geschäften, Schulen und Krankenhäusern bieten, sondern ihnen auch die Möglichkeit geben, sich bei der Gartenarbeit zu regenerieren und als Selbstversorger die Lebenserhaltungskosten zu senken.

Natürlich engagierte sich Cadbury nicht aus purem Altruismus. Gesunde und belastbare Arbeiter waren seine Produktionsbasis. Aber er verteidigte ihre Interessen: Als die Häuser zu Spekulationsobjekten wurden, unterband er dies durch die Gründung einer Genossenschaft.

Rundum geglückte Planungen, die sowohl ästhetisch als auch sozial allen Anforderungen Stand halten, sind im Verlauf des 20. Jahrhunderts eher die Ausnahme. Brasília, prominentes Beispiel einer aus dem Nichts heraus entstandenen Stadt, ist trotz der modernistischen Geste schon im Moment ihrer Fertigstellung überholt. An den Rändern entstehen Favellas und Satellitenstädte, genau das, was Oscar Niemeyer und Lúcio Costa mit ihrem Programm von Gleichheit, Brüderlichkeit, Freiheit, Ordnung und Fortschritt hatten vermeiden wollen. Inzwischen lebt nur noch ein Viertel der Bewohner im Kern der 1960 eingeweihten Hauptstadt, der Rest verteilt sich über die gigantische Peripherie mit Hochhäusern, Villen und Barackensiedlungen.

Der italienische Architekturhistoriker Vittorio Magnago Lampugnani legt mit "Die Stadt im 20. Jahrhundert" ein ungeheuer aufregendes, lehrreiches und mitreißendes Werk vor. Wunderbar gestaltet und reich bebildert bietet es einen Abriss internationaler architektonischer Strömungen, beleuchtet die Schnittstellen zwischen Kunst und Architektur und präsentiert Gebäude in New York, Mailand, Berlin, Wien, Paris, Neu Dehli, Tel Aviv oder Mexiko City ebenso wie niemals realisierte Pläne. Dadurch wird das zweibändige Werk auch für den Laien zu einem inspirierenden kulturgeschichtlichen Lesebuch. Immer wieder verweist der Autor auf ethische und politische Implikationen des Städtebaus und versorgt uns en passant mit biografischen Details schillernder Architekten wie Frank Lloyd Wright, Albert Speer, Le Corbusier oder Aldo Rossi.

Städte sind zu Stein geronnene Spiegel ihrer Zeit: Die imperialen Plätze und Chausseen Mussolinis, denen ganze Viertel zum Opfer fielen, verherrlichen faschistische Überzeugungen. Ganz ähnlich lässt sich das aufgelockerte Berliner Hansaviertel von 1954 als Versuch deuten, nach der monumentalen Gestaltung des öffentlichen Raums durch die Nationalsozialisten sich nun um Liberalität und Fortschrittlichkeit zu bemühen. Obwohl Lampugnani den politischen Opportunismus vieler Stadtplaner scharf verurteilt, erkennt er gelungene Entwürfe an und gesteht zum Beispiel den unter Hitler entstandenen Autobahnen von Fritz Todt gestalterische Qualitäten zu. Nach der Lektüre betrachtet der Leser seine Stadt mit neuen Augen.

Besprochen von Maike Albath

Vittorio Magnani Lampugnani, Die Stadt im 20. Jahrhundert, Visionen, Entwürfe, Gebautes
Wagenbach Verlag Berlin 2010
2 Bände, 912 Seiten, 98 Euro