Stefan Weidner über "Jenseits des Westens"

"Wir alle wissen nicht, wer wir sind"

Stefan Weidner
Der Islamwissenschaftler und Philosoph Stefan Weidner © Deutschlandradio / Manfred Hilling
Stefan Weidner im Gespräch mit Simone Miller · 18.03.2018
Hat der Kosmopolitismus ausgedient? Nein, meint der Islamwissenschaftler und Philosoph Stefan Weidner. Er plädiert für einen Kosmopolitismus, der weder einen bestimmten Wertekanon für allgemeingültig erklärt noch die völlige Gleichwertigkeit kultureller oder weltanschaulicher Positionen deklariert.
Der Kosmopolitismus, der Weidner vorschwebt, soll ein "Dachnarrativ" sein, das es "überhaupt erst ermöglicht, dass wir andere Erzählungen, Weltanschauungen, Ideologien oder meinetwegen auch nur Meinungen hegen können".

Die Verschiedenheit akzeptieren

Die traditionelle, aufklärerische Idee des Kosmopolitismus sei heute diskreditiert, weil sie in der Vergangenheit mit einer effektiven Hegemonie des Westens einhergegangen sei. Auch sei heute mehr denn je sichtbar, zu welchen Problemen die westliche Dominanz weltweit auch geführt habe.
"Die Überlegenheit des Westens, die materiell, ökonomisch noch gerechtfertigt ist, kann als kulturelle nicht mehr glaubwürdig vertreten werden, weil sie keine Alternativen zur Weltsituation bereithält und weil sie genau das bewirkt hat, was uns jetzt allen Probleme bereitet: Angefangen von den Umweltproblemen bis hin zu weltanschaulichen Problemen."
Anders als nach dem Ende des Kalten Krieges prophezeit, habe die westliche Vormachtstellung kein "Ende der Geschichte" herbeigeführt und ideologische Konflikte aufgelöst. Angesichts des Fortdauerns weltanschaulicher und kultureller Differenzen müssten wir lernen, die kulturelle und weltanschauliche "Verschiedenheit zu akzeptieren, ohne sie als brutale Konkurrenz und als Verdrängungswettbewerb zu begreifen".
Den "Kampf der Kulturen", den der Politikwissenschaftler Samuel Huntington vor zwanzig Jahren vorausgesagt hat, bezeichnet Weidner als "selbsterfüllende Prophezeiung": erst "herbeigeführt von den verschiedenen Akteuren auf beiden Seiten". Die klare Trennung verschiedener Kulturräume und Weltanschauungen lasse sich angesichts der globalen Vernetzung gar nicht aufrechterhalten: "Es gibt nicht mehr die reine Demokratie oder die reine Orthodoxie oder das reine China."

Es gibt keine Identitäten

Stattdessen beeinflussen sich verschiedene Weltanschauungen ständig gegenseitig über vermeintliche kulturelle Grenzen hinweg: Als Beispiel nennt Weidner den Islamismus: Dieser habe als "weltliches Heilsversprechen" mehr mit den westlichen, politischen Ideologien des Faschismus oder Kommunismus gemein als mit traditionellen Religionen. So würden jeweils Positionen des jeweiligen Gegners vereinnahmt.
"Es gibt keine Identitäten", meint Weidner - schon gar keine abgeschlossenen. Sie lassen sich immer nur nachträglich konstruieren, wären aber niemals geschützt vor der "Unterwanderung" durch andere Anschauungen oder Lebensweisen.
"Wir alle wissen nicht, wer wir sind und wir müssen es auch gar nicht wissen. Wir brauchen eine Art von Entfremdungstoleranz. Wir müssen und darüber klar sein, dass das, wie wir uns die Welt vorstellen, wie wir uns unsere Identität vorstellen, nie deckungsgleich ist, mit unserer realen, physischen, gelebten Praxis."

Fortschrittsglaube als "Heilsversprechen"

Wenn überhaupt ließen sich feste Identitäten nur durch "eine gewalttätige Manipulation der Wirklichkeit" durchsetzen.
"Und das ist das Programm aller politischen Ideologien, inklusive der Ideologie des Westens, die behauptet, wenn die ganze Welt so toll wird wie wir, dann wird alles friedlich und gut sein, was natürlich barer Unsinn ist, wenn man sich anschaut, was der Westen in der Welt angerichtet hat, wie es mit der Umwelt aussieht, wie die ökonomischen Verwerfungen sind."
Das "Heilsversprechen" des Westens ist der Fortschritt, so Weidner. Damit übertrage sich das religiöse Konzept des Jenseits auf das Diesseits. Das sei insofern ein Problem, dass sich daraus ein unendlicher Imperativ zur Verbesserung ableite, ein Versprechen auf das Paradies auf Erden, das aber nie zu allseitiger Zufriedenheit erfüllt werden könne, weil jeder etwas anderes unter "Fortschritt" versteht. Deutlich sieht Weidner das in den vielfältigen "Heilsversprechen" des Silicon Valley. In diesem Sinne sei "das Kind schon in den Brunnen gefallen":
"Der Fortschritt hat, glaube ich, auf globaler Ebene vieles nicht nur besser, sondern mindestens im selben Maße auch schlechter gemacht."
Ein maßvoller Fortschritt erfordere, dass wir zunächst "entfremdungstolerant" werden, also "die Differenz zwischen Sein und Bewusstsein" akzeptieren. "Dann können wir uns überlegen: Wo ist es denn sinnvoll etwas besser zu machen?" Dagegen würden heute Aufklärung und Fortschritt meist als Dogma verstanden, statt als Prozess. Dieses Dogma umfasse materiellen Fortschritt, "blinden Wissenschaftsglauben" und einen "dogmatischen Atheismus", der sich selbst gegenüber allen Formen religiösen Glaubens als überlegen betrachte.

Ein Kosmopolitismus mit Gott und das "Recht auf Rechte"

Dem entgegen setzt Weidner "die Hypothese einer transzendenten Instanz, die strukturell gleich ist mit dem was in traditionellen Religionen Gott ist" - wohlgemerkt ein Gott, der "inhaltlich" unbestimmt bleibt, eine Art Leerstelle, die "eine Position über der Menschheit" markiert, die sich der "Manipulierbarkeit" entzieht und damit eine "maßstabsetzende Instanz" gewährleistet.
"Diese Hypothese ist eine Setzung. Sie ist ein rationaler Akt, zu sagen: Diese Instanz, die früher Gott genannt wurde, wird uns helfen mit einem gelasseneren Blick auf die weltanschaulichen Verwerfungen von heute zu schauen."
Es geht nicht um einen Gott, der Gesetze erlässt, sondern einen Orientierungspunkt, der es erst ermöglicht, 'von oben‘ die Masse der einzelnen Menschen als Einheit wahrzunehmen.
Eine mögliche Form, die diese Instanz annehmen kann, ist das "Recht auf Rechte", wie es Hannah Arendt beschrieben hat: "Dieses Recht auf Rechte ist eine höhere Instanz, als die einzelnen gegebenen Rechte, die Ihnen vielleicht ein Staat oder eine Religion konkret gibt." Nämlich: Das Recht jedes Menschen, in einem Rechtssystem zu leben, auf bestimmte Rechte Anspruch zu haben. Dieses Recht auf Rechte erlaube es uns als "Dachnarrativ" überhaupt verschiedene Rechtssysteme wechselseitig zu akzeptieren.

Jenseits der Nationalstaaten

Erst diese Instanz eines übergreifenden Rechts schütze den Kosmopolitismus davor, in Relativismus zu verfallen und schaffe ein "parastaatliches Bewusstsein" - wie es Weidner exemplarisch im Falle der deutschen Aufnahme von Geflüchteten sieht: Hier sei richtigerweise dem Menschenrecht mehr Gewicht als dem nationalen Recht eingeräumt worden. Das "Recht auf Rechte" verpflichte uns, Geflüchteten einen Rechtsschutz bereitzustellen, der über das "nackte Recht auf Leben" hinausgeht.
Einerseits bedürfe es "paranationaler Institutionen", um ein übergeordnetes Recht durchzusetzen - etwa dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag, der allerdings angesichts nationaler Egoismen kaum etwas durchsetzen können. Deshalb brauche es zugleich einen "Bewusstseinswandel über die Nationalstaaten hinaus".
Im Klimaschutz, in den Aktivitäten von Menschenrechtsorganisationen oder dem Kunstbetrieb sieht Weidner bereits einige Ansätze für einen solchen Wandel.