Standardwerk zur deutschen Nachkriegsgeschichte

Benz beschreibt, wie sich BRD und DDR zwischen 1945 und 1949 entwickelten - 1961 wurde dann die Mauer gebaut.
Benz beschreibt, wie sich BRD und DDR zwischen 1945 und 1949 entwickelten - 1961 wurde dann die Mauer gebaut. © Deutschlandradio
20.08.2009
Es ist ein eigen Ding um das Gedächtnis: Die Erinnerung glättet und beschönigt - aus einem Gewirr an Fakten, Bildern und Gefühlen formt sie eine geradlinige Erzählung. So werden ganze Zeitalter retrospektiv aufgehellt.
Ein Beispiel: die Nachkriegszeit. In Ost und West glaubt man rückschauend an eine "Stunde Null" nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes. "Stunde Null", das meint: zurück auf Start, das böse vorher ist vergeben und vergessen.

Das Bonner Grundgesetz vom Mai 1949 sei "völlig frei und selbstständig" erarbeitet worden – das sagte Konrad Adenauer seinerzeit und bei dieser Lesart ist es geblieben. Der Aufschwung im Westen war hausgemacht, so denken viele, der Ostteil Deutschlands hingegen von Anfang an auf einem Irrweg.

Alles Legenden - bequeme Legenden - behauptet nun der Historiker Wolfgang Benz. Den Schlussstrich nach Kriegsende habe es so wenig gegeben wie die Neuorientierung aus eigener Kraft: "Die ‚Stunde Null’ fand nicht statt." Der "Jubel über den Erfolg des Grundgesetzes" verdecke die geschichtlichen Fakten - ohne Kenntnis der Vorgeschichte sei die doppelte deutsche Entwicklung nach 1949 samt ihren Kontroversen nicht zu verstehen. Mit seiner Studie will Benz "Mythen zerstören".

Erst eine Reihe dramatischer Ereignisse, sagt Benz, führten zur Gründung der zwei Republiken. Der Historiker schildert Stationen und Widerstände auf diesem Weg. Er skizziert die divergierenden Kriegsziele der Alliierten, ihre Pläne, Deutschland zu zerstückeln, dann die Herrschaft der Besatzer und ihr System der "Bestrafung, Säuberung, Zähmung" (vulgo: Entnazifizierung). Er beschreibt die Schulddiskussion der Deutschen nach dem Untergang des Reichs, das Gefühl "vollständiger Ohnmacht", die Not und die Krisen, die "Kultur auf Trümmern" und die Erfindung der Sozialen Marktwirtschaft.

Der rechtsstaatliche Weg wurde den Menschen im Westen von den Alliierten förmlich aufgedrängt, so Benz; es habe einen "Auftrag Demokratie" gegeben und starken Widerstand gegen diesen Auftrag. Widerstand? "Die westdeutschen Politiker wollten das Odium der Spaltung nicht auf sich nehmen." Später schmückten sie sich mit fremden Federn (etwa mit dem Erfolg der Währungsreform): "Was gut ging, war selbstverursachte Leistung. Was nicht so gut ging, das sollte auf dem Konto der Alliierten bleiben."

Für Spannung, sogar für Verblüffung sorgt der Benz’sche Systemvergleich. Über die Staatsbildung der einen und der anderen äußerte er im Interview:

"Beide taten’s auf Geheiß. Das Geheiß im Westen war nur etwas attraktiver, etwas früher, man musste dann im Osten reagieren."

Parlamentarische Demokratie versus Arbeiter- und Bauernstaat – das Modell allein entschied nicht über den Werdegang, betont Benz. Beide hatten die "Chance des Neubeginns" (der Westen aber die besseren Bedingungen). Vorherbestimmt waren "weder der Erfolg der BRD noch das Scheitern der DDR". Sozialismus, schreibt Benz, sei anfangs auch im Westen als attraktiv, als fortschrittlich gesehen worden, sogar in Adenauers rheinischer CDU. Dann aber kam der geborgte Wohlstand.

Die Monographie ist eine tiefgründige, detailreiche Arbeit. Störend wirkt allein der manchmal holperige Satzbau, der verworrene Stil. Nach Angaben des Autors bündelt die Studie "die Ergebnisse aus drei Jahrzehnten eigener Forschung zur deutschen Nachkriegsgeschichte". Der Verlag spricht von einem Standardwerk, und in diesem Fall hat das lobende Attribut wohl seine Berechtigung.

Besprochen von Uwe Stolzmann

Wolfgang Benz: Auftrag Demokratie. Die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik und die Entstehung der DDR 1945–1949
Metropol-Verlag, Berlin 2009
528 Seiten, 29,90 Euro