St. Vincent: "Masseduction"

Die schlau-charmante Verführerin

Annie Clark bei einem Auftritt als St. Vincent auf einem Festival in Kanada.
Annie Clark bei einem Auftritt als St. Vincent auf einem Festival in Kanada. © Imago Stock & People
Von Marcel Anders · 17.10.2017
Hätten Kate Bush und Prince ein gemeinsames Kind gezeugt, wäre es wohl wie Annie Clark alias St. Vincent: Schrill, zynisch, wunderbar. Auf dem neuen Album "Masseduction" ist sie zeitkritisch, geht aber auch mit sich selbst hart ins Gericht.
"Du machst einfach ein besseres Album als beim letzten Mal. Und als ich mit diesem anfing, habe ich nicht an die Erwartungen gedacht. Aber ich habe mehr Zeit investiert, als in jedes andere - um sicherzustellen, dass die Songs hieb- und stichfest sind. Das erreicht man, indem man seine gesamte Energie in die Kunst steckt. Mit ein bisschen Glück folgt der Rest."
Darin hat Annie Clark fast zwei Jahre investiert. Sie hat sich in ihrem Tonstudio verschanzt und ein – so sagt sie – asketisches Dasein aus Arbeit und noch mehr Arbeit geführt. Eben zurückgezogen und mit einer langen Liste an Themen, die ihr unter den schwarz lackierten Fingernägeln brannten. Die hat sie mit viel Zynismus abgearbeitet. Wie Kritik am amerikanischen Gesundheitssystem, das Tabletten gegen alles verschreibt. An Hollywoods Jugend- und Schönheitswahn oder an der Promikultur. Dinge, die genauso irre seien, wie der aktuelle US-Präsident – nur, dass sich darüber niemand mehr aufrege.
"Es ist eine Peter-Pan-Welt. Und eine Fortsetzung des Phänomens aus den 80ern, das mit Wallstreet und Kokain zu tun hat. Nämlich sich selbst zu perfektionieren. Und zwar durch Konsum und mit dem Gedanken, das wäre eine wertvolle und edle Sache. Als ob man etwas fürs allgemeine Wohl täte, wenn man sich um sich selbst kümmert. Die Leute reden über grüne Smoothies als würden sie Krebs heilen. Dabei ist das nur eine Form von Narzissmus."

Spiel mit sexuellen Fantasien

Annie geht nicht nur mit der modernen Welt ins Gericht – sondern auch mit sich. Mit S&M-Fantasien und erotischen Club-Abenteuern, die sich ausschließlich in ihrem Kopf abspielen statt in der Realität. Die zeigen, wie schüchtern sie eigentlich ist. Und dass sie ein komplexes Verhältnis zu Partnerschaft und Liebe hat. Darüber redet sie ganz offen. Genau wie über ihre Negativ-Erfahrungen mit prominenten Partnern wie Model Cara Delevingne (dele-win). Der widmet sie das Stück "New York" – eine Liebeserklärung, an die einzige Person, die Manhattan erträglich mache, und ihr viel Aufmerksamkeit beschert.
"Daran habe ich fast ein Jahr gebastelt. Und natürlich ist mir klar, dass sich die Leute darauf stürzen. Das verstehe ich. Schließlich hatte ich eine sehr öffentliche Beziehung, wenn auch eher unbeabsichtigt. Und die Tatsache, dass der Song diskutiert wird, ändert für mich nichts an seiner Besonderheit und Intimität."
Öffentliche Selbsttherapie, unterlegt mit einer spannenden Symbiose aus Electronica und Indie-Rock, aus sphärischen Sequenzern und Beats sowie kantigen Gitarrenriffs, die St. Vincent permanent verfremdet. Zudem flirtet sie mit Funk und Orchester-Pop, erinnert mal an Prince oder Kate Bush, aber gehört keinem Genre und keiner Szene an. Sie steht allein auf weiter Flur. Auch als Musikerin, die ihre eigene, selbstdesignte Gitarre spielt.

Einladungen von David Byrne und Sufjan Stevens

"Sie ist ergonomisch, leicht und geschlechtsübergreifend. Als die Gitarre angekündigt wurde, habe ich zum Spaß gesagt, da wäre auch Platz für ein oder zwei Brüste. Leider wurde das überall aufgegriffen und schon hieß es, ich hätte ein Instrument für Frauen entworfen. Und das bedeutet ja nichts anderes als dass wir etwas Spezielles bräuchten. Als ob wir quasi behindert wären. Und das war nie die Absicht. Es ist eine tolle Gitarre und die einzige, die ich auf dem Album benutze."
Das unkonventionelle Verfremden von Gitarren und das endlose Übereinanderlegen von Effekten hat St. Vincent Einladungen von David Byrne, Glenn Branca und Sufjan Stevens beschert. Und gilt als ihr Markenzeichen – genau wie witzige Videoclips, choreographierte Shows und immer neue Frisuren. Die erinnern mal an Greta Garbo, die Monroe, Marlene Dietrich oder - aktuell - an die junge Katy Perry: halblang, glatt und pechschwarz.
"Ich hatte eine bedauernswerte Frisur nach der anderen. An einem Punkt sah ich mal wie ein Igel aus. Aber die Sache ist: Wenn du auf die Bühne gehst und die Leute quasi herausforderst, dich anzusehen, musst du dir auch Mühe bei der Präsentation geben. Denn es ist eine Show – und ich mache mir viele Gedanken über das kreative Gesamtpaket und das Visuelle. Schließlich bin ich ein Teil davon."

Dem Rummel traut sie nicht

Obwohl ihre Karriere bestens läuft und sie sich vor Angeboten kaum retten kann: St. Vincent ist Realistin genug, dass sie dem Rummel um ihre Person nicht wirklich traut. Dass sie ihrem fünften Album den ironischen Titel "Masseduction" – Massenverführung - gibt, und uns auf dem Cover einen Allerwertesten entgegenstreckt. Eine Parodie auf "sex sells" und auf sich selbst als seriöse Künstlerin. Schließlich, so sagt sie, wisse man nie, wie lange man sich in dieser Branche halten könne.
"Ich habe unglaubliches Glück, dass ich beim fünften Album bin und sich die Leute immer noch für mich interessieren. Das kommt in der Musikindustrie kaum noch vor. Und das weiß ich. Von daher warte ich im Grunde nur darauf, dass es abwärts geht."
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