Sprunghafte Liebschaft

Rezensiert von Uwe Stolzmann · 08.09.2006
Der junge Peruaner Ricardo verliebt sich 1950 in die geheimnisvolle Lily, der er im Laufe der nächsten 30 Jahre an verschiedenen Orten weltweit immer wieder begegnet. Trotz der kitschigen Geschichte schafft es Maria Vagas Llosa mit "Das böse Mädchen", zu unterhalten und zu faszinieren.
Ein Peruaner, studiert und fernwehkrank, hat Sehnsucht nach Europa. Irgendwann in den Sechzigern zieht er in das Mekka aller gebildeten Latinos, nach Paris. Jahrzehnte wird er in der Ferne bleiben, ein Sänger im freigewählten Exil, wird sich einsam fühlen, oft allein sein, und manchmal nur kreuzt eine Frau seinen Weg, dieselbe Frau, immer wieder. Seine Jugendliebe. Ein unstetes Wesen, Latina natürlich, wie er halb entwurzelt. Er verzehrt sich nach ihr, sie aber wird fortgetrieben, in immer neue Weltgegenden, von wo ihre Kometenbahn sie doch stets zurückführt, zurück zu ihm. Was für eine obsessive Beziehung, eine wahrhaft "akrobatische Liebe, die Jahre und Orte überspringt".

Ein peruanischer Autor hat das Märchen vor ein paar Jahren aufgeschrieben (deutscher Titel: "Küß mich, du Idiot"), ein Anwalt aus Lima, der als Emigrant viel Zeit in Frankreich verbrachte. Er ist einer der großen Erzähler spanischer Sprache, Alfredo Bryce Echenique, Jahrgang 1939.

Ein berühmter Landsmann Bryce Echeniques, einst ebenfalls Protagonist des "Booms" lateinamerikanischer Literatur, hat die Geschichte vom Peruaner in Paris und seiner sprunghaften Liebschaft mit Abwandlungen nun noch einmal erzählt – Mario Vargas Llosa, 1936 geboren und ebenfalls seit einem halben Menschenleben in der Alten Welt.

Und so geht die Geschichte bei Vargas Llosa: Der Ich-Erzähler Ricardo, ein Junge aus Limas Oberschicht, lernt 1950, in einem Sommer des Mambofiebers, zwei geheimnisvolle Schwestern kennen, Lily und Lucy, sehr sexy, angeblich Chileninnen.

Er verliebt sich in Lily, er "erklärt" sich ihr, drei-, viermal, doch sie, sie lässt ihn abblitzen. Ein Zufall enttarnt die Mädchen als Schwindlerinnen, Lily und Lucy, aus Limas Armenvierteln stammen sie, und prompt verschwindet die Begehrenswerte aus Ricardos Universum. Fort. Aber unvergesslich.

Der Held wird Anwalt; um 1960 geht er nach Paris, arbeitet als Übersetzer für die UNESCO, wie Vargas Llosa es tat, und zehn Jahre nach den ersten Rendezvous trifft er die rätselhafte Schöne erneut, Lily, jetzt Genossin Arlette, auf Durchreise zu einem Guerilla-Kurs im revolutionären Kuba. Leidenschaft lodert; Ricardo hat die Frau für eine Nacht, sie bleibt kalt, ein "Eisberg", dann ist sie fort. Zeit vergeht. Lily kehrt wieder, entschwindet, kommt und geht, mit immer neuer Identität. "Guter Junge" sagt die Frau; er nennt sie das "böse Mädchen".

Diese Lily, mit "Augen von der Farbe dunklen Honigs", jedoch ein "Monster an Egoismus und Herzlosigkeit": Aus Lima ist sie einst geflüchtet, um der Armut zu entkommen. Nun wirft sie sich reichen Männern an den Hals, nimmt sie aus. "Um zu erreichen, was man will, ist jedes Mittel recht." Sie jettet um den Erdball und durch die Jahrzehnte. Jede Station eine Bühne vor plakativer Kulisse, das aufbegehrende Paris der Sechziger, das wilde London der Siebziger, Madrid in der Post-Franco-Ära der Achtziger...

Mario Vargas Llosa hat in jungen Jahren avantgardistische Romane publiziert, kraftvolle Bücher voller Rebellionsgeist. In letzter Zeit liegt seine Stärke eher im Essay. Die Prosa der politischen Aufsätze und schöngeistigen Monographien hat nach wie vor Biss.

Für seinen jüngsten Roman, diesen wehmutsvollen Text um eine herzensbrechende "niña mala", ist der Siebzigjährige nun zaghaft gelobt und heftig gescholten worden. Die verwunderliche Nähe zum Werk eines Landsmannes blieb dabei unerwähnt.

Blass sei die Zeichnung der Figuren, die Sprache kitschig, mitunter trivial. Schon wahr. Aber die Kritiker unterschätzen eine Gabe des Großmeisters: Er versteht noch dann zu unterhalten, wenn er in seichtere Gewässer abdriftet. Er hat Stil, er besitzt Gefühl für Klang und Rhythmus. Und routiniert, mit wenigen Strichen, skizziert er komplexe Panoramabilder, europäische Städte in den Stürmen der Zeit.

Am Ende fasziniert das eremitische Dasein des Protagonisten mehr als die Lovestory. Hier ist der Autor ganz bei sich, ein Lateinamerikaner mit gekappten Wurzeln. Bei Bryce Echenique klagt irgendwer: "Paris ist oft ein Fest, aber nur für geladene Gäste." Bei Vargas Llosa meint ein Kollege des Ich-Erzählers: "Nicht Frankreich ist Schuld, wenn wir immer noch zwei Fremde sind, mein Lieber. Wir sind Schuld. Es ist Bestimmung, Schicksal. Wie unser Dolmetscherberuf, auch eine Form, immer ein Fremder zu bleiben, zu existieren, ohne zu existieren, zu sein und doch nicht zu sein."

Mario Vargas Llosa: Das böse Mädchen
Roman. Aus dem Spanischen von Elke Wehr.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2006.
395 Seiten, 24,80 Euro.